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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden
Autoren: Kate Pepper
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Persönliches verleihen sollten, waren weiter unten befestigt, um den anderen die eigenen Spleens zu ersparen. Ein Schreibtisch allerdings unterschied sich von den übrigen, dort hatte ein nicht ganz unbekannter politischer Journalist zum Gang hin eine Trutzburg aus Legosteinen errichtet. Und so unglaublich es auch schien: Bei all den Menschen, die in letzter Sekunde zu ihren Terminen hetzten oder hektisch nach frischem Kaffee suchten (unverzichtbarer Treibstoff beim Verfassen ihrer Artikel), nahm diese Legowand niemals Schaden. Ich selbst betrachtete die Redaktion inzwischen als Bühne, auf der eine Art Ballett aufgeführt wurde. Trotz des Chaos hatte man doch immer den Eindruck hochpräziser Arbeitsabläufe, einer Choreographie aus bis ins Letzte durchgeplanten Aktionen und Reaktionen, aus der jeden Tag von neuem eine der meistgelesenen Zeitungen der Welt hervorging.
    Ich ging zurück an meinen Schreibtisch und grüßte alle, die nicht gerade in irgendetwas vertieft waren. Unterwegs traf ich Elliot Lee, den Herausgeber des Lokalteils, einen schlanken Mann Mitte vierzig mit glattem, an den Schläfen bereits graumeliertem Haar und dem besten Kleidungsstil der ganzen Redaktion. Die maßgeschneiderten Anzüge, die er trug, wenn er wie heute Auswärtstermine hatte, standen ihm ausgezeichnet. An normalen Tagen sah man ihn meist in einer grauen Hose mit Bügelfalte und einem blauen Hemd ohne Krawatte – der Versuch, etwas legerer zu wirken, ohne dabei seine Autorität zu untergraben. Es war ein Balanceakt, den ich nur zu gut nachvollziehen konnte. Elliots Eltern stammten aus China, sie waren Einwanderer wie meine, und deshalb achtete er stets peinlich genau darauf, alles zu unterbinden, was ihn irgendwie als Außenseiter dastehenließ. Einmal hatte er aus heiterem Himmel ein Peace-Zeichen an einer Kette um den Hals getragen, dieses Experiment danach allerdings nicht mehr wiederholt.
    Elliot lächelte mich an, als wir uns im Mittelgang begegneten. Seine Zähne standen sehr dicht beieinander, ein Schneidezahn verdeckte den anderen ein wenig. Er hob die Hand, um mich mit seinem üblichen, leicht steifen Handschlag zu begrüßen.
    «Und, Darcy, wie läuft’s?»
    «Alles bestens, danke.»
    «Brauchst du mich heute noch? Wenn ja, wäre jetzt der beste Zeitpunkt. Ich muss in einer halben Stunde los, und wenn ich wiederkomme, bist du bestimmt schon weg.»
    «Nein, bei mir ist alles klar, danke.»
    Wir lächelten uns an und gingen zu unseren Schreibtischen.
    Ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Hätte ich die Gelegenheit nicht nutzen sollen, um Elliot von dem geheimnisvollen Anruf zu erzählen, bevor er für diesen Nachmittag verschwand? Es würde mir mit Sicherheit ein paar Pluspunkte verschaffen, dass gerade mir ein Informant seine Exklusivinformationen anvertrauen wollte. Und grundsätzlich schadete es auch nichts, wenn jemand wusste, wo man sich aufhielt, vor allem zu unüblichen Zeiten am frühen Morgen oder mitten in der Nacht   … Aber nein. Mir würde schon nichts passieren, und ich wollte Elliot einfach nichts von diesem Anruf erzählen. Zumindest noch nicht. Es befassten sich bereits mehr als genug
Times-
Reporter, die sehr viel erfahrener waren als ich, mit unterschiedlichen Aspekten des Atlantic-Yards-Projekts. Was, wenn Elliot nun beschloss, meinen Informanten an jemand anderen weiterzureichen? Außerdem kam es auch nicht gerade selten vor, dass Reporter mit Hinweisen konfrontiert wurden, die sich kurz daraufals Holzweg entpuppten. Ich beschloss, erst einmal herauszufinden, worum es sich genau handelte, und dann zu entscheiden, wie ich weiter vorgehen wollte.
    Zurück an meinem Schreibtisch hörte ich den Anrufbeantworter ab, checkte Mails und ging dabei im Kopf noch einmal den Anruf durch:
«Kommen Sie morgen früh um sechs zum Grundstück. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.»
Er hatte sehr selbstsicher geklungen. Von dem Moment an, als ich mich am Telefon meldete, hatte er das Gespräch gelenkt. Wahrscheinlich wollte er mich so früh am Morgen treffen, damit sonst noch niemand auf dem Baugrundstück war und wir nicht zusammen gesehen wurden. Das hieß, dass er mit den Informationen, die er für mich hatte, nicht in Verbindung gebracht werden wollte, was wiederum bedeutete, dass es brisante Informationen sein mussten. Ich hatte schon oft überlegt, wie Reporter eigentlich an ihre Informanten kamen, deren zugesicherte Anonymität ihnen die besten Exklusivstorys verschaffte. Jetzt wurde mir klar, dass es
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