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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden
Autoren: Kate Pepper
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möglicherweise genau umgekehrt war: Der Informant sicherte sich den Reporter. Freie Journalisten, die keiner kannte, bekamen auch keine solchen Anrufe. Seitdem ich hier bei der
Times
arbeitete, war auch ich als Adressatin sensibler Informationen interessant. Dieses völlig neue Gefühl, eine Art Machtposition zu bekleiden, ließ mich kurz erschauern.
     
    «Da musst du hinkommen, Mom.» Ben knallte eine blaue Kopie auf den Tisch neben meinen Teller, auf dem nur ein Häufchen Hühnerknochen, ein paar gelbe Reiskörner und Spuren der exotisch gewürzten Soße zurückgeblieben waren, die diesen dominikanischen Heimservice so unglaublich lecker machte. Oben auf dem Zettel stand:
Bunter Abend
. Ben probte dafür seit Wochen mit Hingabe einen Song aus dem Musical
Guys and Dolls
.
    «Das ist schon morgen?», fragte ich entgeistert. «Um 17   Uhr? An einem Werktag? Und das sagt man uns erst jetzt? Wollt ihr vielleicht kein Publikum?»
    «Wir haben den Wisch schon letzte Woche gekriegt, ich hab nur vergessen, ihn dir zu geben. ’tschuldigung.»
    «Ach, Ben!»
    «Du kommst doch, Mom, oder?» Ben stand vor mir, sein blauer Schulrucksack, der von Büchern, Heften und losen Blättern schier überquoll, stand offen auf dem Stuhl neben ihm. Ben, der seit kurzem genau so groß war wie ich und sekündlich weiterzuwachsen schien. Dessen pickliges Gesicht mit den ersten Bartstoppeln sein Vater niemals sehen würde. Ben, der jeden Abend duschte, ohne dass sein neuerdings fettiges Haar locker fallen würde, und die strähnige Mähne trotzdem weiterwachsen ließ. Mein kleiner Ben, dessen Hormonchaos seine Schwachstellen so sehr offenbarte, der unsicher auf der Schwelle zum Erwachsenwerden stand.
    «Natürlich komme ich.» Ich stand auf und befestigte das Blatt am Kühlschrank, mit einem Magneten aus dem Fast-Food-Set, das Ben mir vor zwei Jahren in den Weihnachtsstrumpf gesteckt hatte. Er hatte es zusammen mit Hugo für mich ausgesucht. «Und anschließend gehen wir zur Feier des Tages essen.»
    «Super!» Ben strahlte. «Wie wär’s mit einem Bacon Burger von Gravy?»
    «Sehr witzig», erwiderte ich mit meiner strengsten Miene, und Ben kicherte. Der Hamburger-Magnet hatte ihn darauf gebracht – die ständige Erinnerung an meine legendären Ausrutscher nach einer Phase als Fast-Vegetarierin. Während meiner Schwangerschaft hatte ich unwiderstehliche Gelüste nach rotem Fleisch gehabt. Als Ben dann auf der Welt war, versuchte ich umgehend, mich wieder aufHühnchen und Fisch zu beschränken. Doch Hugos Spott blieb mir erhalten, schließlich hatte er mich mehrfach mitten in der Nacht einen Riesenburger verputzen sehen. Er selbst war ein großer Freund guter Steaks, und dass auch ich plötzlich einen solchen Heißhunger auf Hamburger entwickelte, hatte ihn in seiner «Fleischeslust» nur bestätigt. Danach fiel es mir sehr viel schwerer, ihn mit meinen Argumenten gegen rotes Fleisch zu überzeugen. Er bestand allerdings auf Bio-Fleisch, wobei das meines Erachtens auch schon egal war.
    «Ich hatte eigentlich eher an Japanisch oder Mexikanisch gedacht», sagte ich jetzt. «Vielleicht auch pazifische Küche. Aber es ist dein Abend, du darfst wählen   … vorausgesetzt, dass es nicht Gravy oder das Diner ist.»
    «Oder das Boco oder das Raja House. Es gäbe jede Menge Lokale an der Smith Street, Mom, wenn du nicht immer gleich die Hälfte aussortieren würdest.»
    «Bei so vielen guten Restaurants wird man ja wohl noch ein bisschen wählerisch sein dürfen.»
    «Wenn du sonst nichts zu deiner Verteidigung vorbringen kannst, vergiss es.» Ben zwinkerte mir zu, schloss den Reißverschluss seines Rucksacks und hängte ihn sich über die Schulter. «Ich geh jetzt Hausaufgaben machen.»
    «Erst räumst du bitte noch den Tisch ab.»
    «Entspann dich, Mom.»
    «Ich bin völlig entspannt. Ich möchte einfach nur, dass du den Tisch abräumst.»
    «Du solltest mal deinen Ton hören.»
    Was war denn falsch an meinem Ton? In letzter Zeit hatte Ben mir mehrfach vorgeworfen, ich wäre neurotisch. Dabei stimmte das gar nicht: Natürlich war ich ängstlicher und unsicherer seit Hugos Tod. Eine gewisse Empfindlichkeit hielt ich aber für ganz normal und gab die Hoffnungnicht auf, dass sich das wieder legen würde. Vielleicht war mein frischpubertierender Sohn ja seinerseits auch etwas überempfindlich, was ebenfalls normal war. Wahrscheinlich waren wir in letzter Zeit beide übermäßig gereizt. Aber das war alles völlig verständlich. Schock, Trauer und
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