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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: Colin Forbes
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treffen, war Oberst Lasalle fünfundfünfzig Jahre alt. Klein, kompakt und mit einem hageren Gesicht, schlug er sich jetzt mit nur noch einem Arm durchs Leben; sein linker Arm war ihm 1962 in Algerien durch eine Landmine direkt an der Schulter abgerissen worden. Der damalige Hauptmann der militärischen Gegenspionage hatte sich bei der Vernichtung arabischer Untergruppenführer als fähigster Offizier der französischen Armee erwiesen. Keine vierundzwanzig Stunden nach dem Verlust seines Arms verlor er auch seine Familie: Ein Terrorist warf eine Bombe ins Wohnzimmer seiner Villa und tötete seine Frau und seinen siebenjährigen Sohn. Lasalle lag im Lazarett, als ihm die Nachricht überbracht wurde. Seine Reaktion war bezeichnend für ihn.
    »Da mein Privatleben jetzt beendet ist, werde ich den Rest meines Lebens Frankreich widmen - damit mein Land seine Eigenart bewahren kann. Das ist alles, was mir noch geblieben ist…«
     Sofort nach seiner Genesung kehrte er von Marseille nach Nordafrika zurück. Als er entdeckte, daß sein Gleichgewichtssinn gestört war, begann Lasalle, mit einem Spazierstock in den Estoril-Bergen zu wandern. Er sprang oft über tiefe Felseinschnitte, um ein neues Gleichgewichtsgefühl zu finden. »Wenn es ums Überleben geht«, sagte er später, »paßt der Körper sich wundervoll an …«
    Er kam gerade rechtzeitig nach Algerien zurück, um den bislang entschlossensten Attentatsversuch gegen General de Gaulle zu ermitteln und zu vereiteln. Dann, Jahre später, kam der Zusammenstoß mit Florian.
     Jetzt, in seinem Exil im Saarland, lebte er in einem Bauernhaus in der Nähe von Saarbrücken - und nahe der französischen Grenze. Über Europa Nummer Eins, den Rundfunksender auf deutschem Boden, den Millionen Franzosen hörten, hielt er regelmäßig seine Sendungen ab. Der Verlust seines Arms schien die ungeheure Energie dieses kleinen Mannes nur noch vergrößert zu haben, der sich rühmte, während seines bisherigen Lebens noch keinen Tag müßig gewesen zu sein. Zielscheibe seiner aggressiven Rundfunkkampagne war Guy Florian.
     »Warum besucht er am 23. Dezember die Sowjetunion? Welches Motiv steht wirklich hinter diesem Besuch? Warum reist er ausgerechnet dorthin, zu einer Zeit, in der Europa durch den drohenden Schatten der Roten Armee stärker gefährdet wird als je zuvor. Wer ist der Minister, über den sich in Paris die Gerüchte verdichten …?«
    Lasalle nannte Florian nicht einmal beim Namen. Der ExOberst sprach immer nur von ›ihm‹, ›diesem Mann‹, bis in Paris allmählich die Erkenntnis dämmerte, daß Lasalle nicht nur ein exzellenter Abwehroffizier war; er hatte sich jetzt auch zu einem Meister der heimtückischen politischen Propaganda entwickelt, der die Grundlagen des Florianschen Regimes zu erschüttern drohte. Dies war der Mann, der den Amerikanern in aller Stille zu erkennen gegeben hatte, daß er einen vertrauenswürdigen Abwehrbeamten zu sprechen wünsche.
     Am späten Abend des 9. Dezember, einem Donnerstag, am selben Tag, an dem in New York David Nash MacLeish über seinen bevorstehenden Flug nach Europa und das Gespräch mit Oberst Lasalle informierte, erschien in der Rue du Faubourg St. Honoré ein kleiner, schäbig angezogener grauhaariger Mann und postierte sich gegenüber dem Elysée-Palast. Er stand genau an der Stelle des Bordsteins, an der vor vierundzwanzig Stunden Lucie Devaud im Rinnstein zusammengebrochen war, nachdem Marc Grelles Kugeln sie in die Brust getroffen hatten. Niemand nahm Notiz von dem Mann, und wenn der uniformierte Wachtposten der Garde Républicaine überhaupt einen Gedanken an ihn verschwendete, dürfte er ihn allenfalls für einen dieser Voyeure gehalten haben, die ein makabres Vergnügen daran finden, am Schauplatz eines versuchten Verbrechens zu gaffen. Der schäbig gekleidete Mann kam um 19.30 Uhr an, als es bereits dunkel war. Er war etwa Mitte Sechzig. Sein Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht und verbraucht. Er trug einen struppigen grauen Schnurrbart. Um 20.30 Uhr stand er noch immer dort, als er wie benommen, ohne zur Seite zu blicken, auf die Straße trat. Der Wagen, der nur wenige Meter entfernt war und ziemlich schnell fuhr, konnte nicht mehr bremsen. Der alte Mann mußte urplötzlich vor der Windschutzscheibe des heranfahrenden Wagens aufgetaucht sein. Das Fahrzeug versetzte dem Fußgänger einen schrecklichen Schlag, überfuhr ihn, beschleunigte und verschwand in Richtung Madeleine. Fünfzehn Minuten später raste ein
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