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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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eine gute Lotte wäre?
    Theo schaute von seinem Teller auf.
    »Reiß dich zusammen«, sagte er.
    Es klang wie eine Ohrfeige. Antje zuckte zusammen, als hätte er sie gemeint. Der Wind bewegte die Vorhänge an den offenen Fenstern; es war ein wenig kühl geworden. Die Uhr an der Wand zeigte kurz vor sieben. Schon kroch die Nacht aus den Ecken des Raums. Ich stand auf, um das Licht einzuschalten und die Fenster zu schließen.
    »Magst du die Kartoffeln nicht?«, fragte Antje.
    »Doch«, sagte Jola, fischte schnell mit der Hand die kleinste aus der Schüssel und schob sie in den Mund. »Aber ich habe keinen rechten Hunger.«
    »Essstörungen«, erklärte Theo, leerte sein zweites Glas Wein und schenkte sich nach. »Sie ist ohnehin zu alt für die Rolle. Wenn sie auch noch fett wird, hat sie überhaupt keine Chance.«
    Er lachte wie über einen gelungenen Witz. Antje verschwand in der Küche, um das Kaninchen zu holen. Jola starrte auf ihren unbenutzten Teller. Mit Kunden war es wie mit Familienangehörigen. Man konnte sie sich nicht aussuchen. Während wir auf den Hauptgang warteten, überbrückte ich das Schweigen, indem ich noch einmal klärte, was wir voneinander erwarteten. Sie wollten zwei Wochen Exklusivbetreuung rund um die Uhr, mit unbeschränkter Anzahl von Tauchgängen, Erwerb des »Advanced Open Water Diver« plus Nitrox-Zertifizierung, dazu Unterkunft in der Casa Raya, Ausleihen des Equipments und Fahrdienst zu sämtlichen Tauchspots und Sehenswürdigkeiten der Insel. Ich wollte 14.000 Euro. Normalerweise fasste ich mehrere Kunden in Gruppen zusammen. Jola und Theo zahlten dafür, dass ich für die kommenden vierzehn Tage keine anderen Aufträge angenommen hatte. Nicht billig, aber dafür gehörte ich vollständig ihnen. Wir gaben uns die Hände. Jolas Telefon piepste. Sie las, lächelte und tippte eine Antwort. Antje kam zurück, einen dampfenden Schmortopf zwischen zwei Handtüchern tragend.
    »Conejo en Salmorejo«, sagte sie.
    Knochen ragten aus dem Ragout. Theos Telefon piepste. Er lächelte und legte Jola die Hand auf den Oberschenkel. Sie schickten sich tatsächlich gegenseitig SMS, während sie sich im selben Raum befanden. Antje verteilte Kaninchenstücke. Ihr Cocker Todd kam aus der Küche, wo er den Herd angebetet hatte, sondierte die Lage und bezog neben Jola Position. Offensichtlich hielt er sie für das schwächste Glied der Kette. Ich kostete, lobte das Essen und erinnerte an meine einzige Bedingung: Am übernächsten Mittwoch, den 23. November, bekam ich einen Tag frei. Theo wollte wissen, warum sie an diesem besonderen Mittwoch auf meine Dienste verzichten müssten. Das Kaninchen schmeckte ihm. Ebenso der Wein, den er praktisch allein trank. Mit einem schnellen Blick hielt ich Antje davon ab, eine zweite Flasche zu holen. Jola bemerkte unseren Blickwechsel und lachte, zum ersten Mal an diesem Abend völlig ungekünstelt.
    »Was?«, fragte Theo.
    »Nichts«, sagte Jola.
    Ihr passt nicht zueinander, dachte ich und verbot mir den Gedanken gleich wieder. Das Privatleben meiner Kunden ging mich nichts an. Ich erklärte, was es mit dem 23. November auf sich hatte. Im Spätsommer hatte ich draußen beim Hochseefischen ein ungewöhnlich starkes Signal auf dem Sonar empfangen. Der Gegenstand lag in gut hundert Metern Tiefe und maß über achtzig Meter in der Länge. Vielleicht nur ein ungewöhnlich geformter Steinhaufen. Oder ein sensationeller Fund. In den letzten Jahren waren weltweit kaum noch neue Wracks entdeckt worden, schon gar nicht im tauchbaren Bereich. Die Koordinaten hatte ich im GPS-Gerät markiert; das Auffinden der richtigen Stelle sollte keine größeren Probleme bereiten. Aber eine erstmalige Wrackbetauchung in hundert Metern Tiefe war kein Pappenstiel – vor allem allein. Seit Wochen bereitete ich mich darauf vor, berechnete Gasgemische, zerbrach mir den Kopf, wie ich die Zeit am Grund auf über zwanzig Minuten verlängern konnte, ohne danach über drei Stunden Dekompressionsstopps machen zu müssen, bevor ich auftauchen konnte. Außerdem hatte ich eine Spezialanfertigung von Trockenhandschuhen in Auftrag gegeben und war dabei, ein Heizsystem in meinen Tauchanzug einzubauen. Bernie hatte versprochen, mit der Aberdeen und seinem ebenfalls schottischen Kumpel Dave die schwimmende Basis zu stellen. Das waren professionelle Bedingungen für ein professionelles Unternehmen.
    Jola hörte zu, als käme das Wort Gottes aus meinem Mund. Ihre großen Augen begannen, meine eigene
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