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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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Begeisterung zu spiegeln. Es fiel mir schwer, zum Ende zu kommen.
    Am 23. November wurde ich vierzig Jahre alt, und ich wollte meinen Geburtstag hundert Meter unter dem Meeresspiegel feiern. Allein. Oder noch besser: in Gesellschaft eines Frachters aus dem zweiten Weltkrieg, der seit siebzig Jahren verschwunden war.
    »Da will ich mit«, sagte Jola. »Ich könnte die Bootsmannschaft verstärken.«
    »Das ist eine Expedition, kein Ausflug«, sagte ich. »Jeder Handgriff muss sitzen.«
    Eindringlich sah sie mich an.
    »Ich bin auf Schiffen aufgewachsen.«
    »Ihr Vater besitzt eine Benetti Classic«, sagte Theo.
    Diese Information musste ich erst einmal verdauen. Die Benetti kostete gebraucht so viel wie ein Luxuspenthouse. Und zwar in Manhattan.
    »Trotzdem«, sagte ich. »Tut mir leid.«
    »Oder du trainierst mich auf diese Tiefe und ich tauche mit dir. Lotte hätte das gefallen.«
    Wider Willen musste ich lachen.
    »Bitte!«, rief Jola. »Wir haben zwei ganze Wochen!«
    »Nötig wären mindestens zwei Jahre«, sagte ich. »Wenn ich versuchen würde, dich mit da runterzunehmen, käme ich ins Gefängnis.«
    »Wie lang?«, fragte Theo, ohne den Blick von Jolas flehender Miene zu lassen.
    »Lebenslänglich«, sagte ich. »Wegen Mordes.«
    »Schluss damit«, sagte Antje, der das Gespräch nicht gefiel. »Solche Expeditionen überleben nur professionelle Taucher. Wer möchte Sorbet aus Kaktusfeigen?«
    »Ich ginge liebend gern für ein paar Jahre ins Gefängnis«, sagte Theo in einem Tonfall, als würde er das Thema wechseln. »Da hätte ich endlich Ruhe zum Schreiben.«
    Antje zog die Hand zurück, die sie nach seinem leeren Teller ausgestreckt hatte.
    »Aber dafür müsstest du einen Menschen verletzen.«
    »Das ist ein Vorteil, oder nicht?« Theo drehte die Weinflasche um und schüttelte den letzten Tropfen in sein Glas. »Wer sowieso ins Gefängnis will, hat einen Freischuss. Er muss nur noch entscheiden, wen es erwischen soll.«
    Mit dem Messerrücken schob Jola Kaninchenstücke über den Tellerrand. Todd fing sie aus der Luft.
    »Hört nicht auf Theo«, sagte sie. »Das Schockieren gehört zu seinem Job. Leider macht er es in den letzten Jahren lieber am Esstisch als am Computer.«
    »Immer noch besser«, sagte Theo, »als sich durch peinliche Sätze vor der Kamera zu blamieren.«
    Abrupt stand Jola auf und trat ans Fenster.
    »Meine peinlichen Sätze«, sagte sie mit dem Rücken zu uns, »zahlen unsere Miete.«
    In der Wandlampe brannte sich ein Nachtfalter brummend und zischend zu Tode. Die Kaninchenfasern zwischen meinen Zähnen bereiteten mir ein unbehagliches Gefühl, das ich im ganzen Körper spürte. Antje hob den Kopf und sah Theo mitfühlend an.
    »Und warum schreibst du nichts mehr?«
    Manchmal könnte ich sie umbringen.

Jolas Tagebuch, erster Tag
    Samstag, 12. November. Nachts.
    So nett sind die beiden. Blond, freundlich, down to earth. Mit Kartoffeln und Kaninchen in ihrem kleinen weißen Haus. Normal und … ja: irgendwie gesund. Was sind wir dann – anormal und krank? Wir haben uns nicht einmal richtig fürs Essen bedankt. Der alte Mann hatte es plötzlich eilig zu gehen, noch vor dem Dessert. Kaktusfeigen-Sorbet. Schwierigkeitsgrad: kompliziert. Arbeitszeit: zwei Stunden. Sagt das iPhone. Arme Antje. Jetzt warte ich, bis der alte Mann eingeschlafen ist. Er mag es nicht, wenn ich neben ihm liege, während er zu schlafen versucht. Mein Schlaf ist gut, seiner schlecht. Der Schlaf verwandelt dich in eine Leiche, sagt er. Wie soll ich mich entspannen mit einer Toten neben mir.
    Ich schreibe ihm eine SMS: »Schlaf gut, Theo. Ich liebe dich.«
    Sein Handy piepst im Schlafzimmer. Ich höre es durch die dünne Wand. Eine Antwort kommt nicht. Draußen ist es stockfinster. Gelegentlich heult ein Hund. Gleich am ersten Abend allein auf der Wohnzimmercouch. So beginnt unser wirklich allerletzter Versuch, die Dinge ins Lot zu bringen.

3
    I rgendwie sind die komisch.«
    Ich nannte es »durchnehmen«. Kaum hatte eine Person den Raum verlassen, entbrannte eine Diskussion über den oder die Abwesende. Man glich Einschätzungen ab, korrigierte sich gegenseitig in Details der Beurteilung und verwandelte Spekulationen in ein konsistentes Psychogramm. Antje und ihre Freundinnen waren Expertinnen in dieser Disziplin. Ich hingegen stellte fürs Durchnehmen den denkbar schlechtesten Partner dar. Wenn Antje es trotzdem versuchte, musste es dringend sein.
    Ich stand an der Spüle, kratzte Essensreste von den Tellern und
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