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Notizen aus Homs (German Edition)

Notizen aus Homs (German Edition)

Titel: Notizen aus Homs (German Edition)
Autoren: Jonathan Littell
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werden. Oft nutzen die Jungen ( schabbab ) den kleinsten Vorwand für eine Demonstration, und auch wenn der Alte kein schahid ist, könnte seine Beerdigung so ein Vorwand sein. Aber da er kein schahid ist, wird er auf dem regulären Friedhof beerdigt. Es könnte also Schüsse geben.
     
    Wir drehen unsere Runden durch die Stadt, begleitet von einem Mann mit Motorrad. Erneut fahren wir dicht am Rathaus vorbei, 200 Meter von einem großen Armeeposten entfernt, der an einer Ecke des Gebäudes steht. In der Suk-Straße sind alle Verkaufsstände geschlossen; wir treffen einen ehemaligen Arzt des Krankenhauses, der vor drei Monaten gekündigt hat, als die Armee das Haus besetzte und die Ärzte und das Pflegepersonal in ein anderes, ungeeignetes Gebäude schickte. Er erzählt, dass es seit Beginn der Unruhen im August 120 Tote in Qusair gegeben hat. Unser Freund Der Zorn zeigt uns auf seinem Handy ein Video: der erste schahid von Qusair, im August, am 11. Tag im Ramadan, nackt bis auf einen beschmutzten Slip, der Körper von Kugeln durchsiebt, ein Bein zerfetzt, ein Gemetzel.
     
    Wir gehen zu der Beerdigung, doch es wird keine Demonstration geben. Man stellt uns einigen zivilen Koordinatoren von Qusair vor. Wir plaudern, die Jungs machen Scherze, lachen, ein sehr tiefsinniges Lachen, in dem alles liegt, was hier geschieht. Fröhliche Verzweiflung vielleicht.
     
    *
     
    18.30 Uhr. Fantastisches Reisgericht, Fleisch, Hähnchen, gegrillte Mandeln, kabseh mit labneh . Politische Diskussion. Das Hauptanliegen unseres Gastgebers Abu Amar: »Ich will einen zivilen Staat.« – »Was verstehst du darunter?« – »Einen Staat, in dem sich die Armee und die Sicherheitskräfte nicht in das Leben der Menschen einmischen dürfen. Hier braucht man sogar zum Heiraten eine Erlaubnis der mukhabarat . Einen Staat, in dem jeder Religionsfreiheit genießt, wie er will. Ich habe mir einen Bart wachsen lassen, seitdem habe ich Probleme. Wenn sich mehr als fünf von uns versammeln, können sie verhaftet werden, denn das ist verboten. Den Christen geht es genauso, sie können auch verhaftet werden, wenn sie sich zu mehr als fünf Leuten versammeln.« – Der Zorn: »Salafistische Christen!« Sie träumen weniger von Demokratie, einem Konzept, das in ihren Ohren sicherlich sehr vage klingt, als von einem Rechtsstaat.
     
    *
     
    19 Uhr. Demonstration auf der Straße vor der Moschee des Viertels, gesichert von der FSA und angestrahlt von Scheinwerfern. 300 Personen? Jeden Tag findet eine statt. Fahnen der Opposition, Trommeln, Gesang und Tanz, alles sehr schön und fröhlich. Die Männer tanzen in langen Reihen und fassen sich an den Schultern. Parolen: »Baschar, wir wissen nicht, was du bist, Muslim oder Jude!« – »Baschar, du bist ein Giraffenhals!«
    Ein Mann von der Information 10 filmt vom Dach der Moschee aus. An einer Seite schauen Frauen und Kinder zu und singen auch. Aber nur die Männer demonstrieren.
    Ich steige aufs Dach zu dem Informationstypen. Er heißt M. und spricht ein wenig Englisch. Er zeigt mir ein Video von einer Leiche. Vielleicht einer der Toten aus dem Supermarkt von Homs? Es wird nicht ganz klar, und das Englisch von M. reicht nicht aus. Der Tote ist ein Mann von ungefähr 40–50 Jahren mit Schnurrbart, er hat eine Kugel in den Fuß bekommen, und ein Arm wurde ihm mit dem Messer abgetrennt. Wenn ich richtig verstehe, wurde ihm der Arm abgeschnitten, als er noch lebte, danach wurde er getötet. Im Film weint der Vater des Toten.
    M.: »Die Demonstration ist ein dhikr .« 11 Aber es sind auch Christen dabei. Er stellt mir einen vor, einen 34-jährigen Mann, Oppositionsanhänger. Dieser zeigt mir stolz das Kreuz, das er um den Hals trägt. Er wird gesucht und kann nicht mehr zu Hause schlafen. Auf den Beerdigungen der drei in Homs getöteten Männer waren etwa 50 Christen, sagt man mir.
    M. beharrt auf der interkonfessionellen Einheit der Syrer, der Christ stimmt ihm zu. »Wir leben seit über hundert Jahren zusammen. Baschar ist es, der, als er an die Macht kam, die Probleme zwischen uns geschürt hat. Damit Frankreich und die anderen Länder sagen: Wir müssen die Christen beschützen.«
    Wieder M.: » This country is for everyone, and God is for us. « 12
     
    Parolen: »Baschar, hau ab, mitsamt deinen Hunden!« – »Baschar, wir sind die Syrer, nicht du!« Der Reihentanz hat zwar die Form eines dhikr , aber er hat keinerlei religiöse Bedeutung. Auf jeden Fall eine sehr fröhliche Demonstration.
     
    Besser nicht
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