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Notizen aus Homs (German Edition)

Notizen aus Homs (German Edition)

Titel: Notizen aus Homs (German Edition)
Autoren: Jonathan Littell
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um nach Syrien zu gelangen. Ich befrage Den Zorn dazu.
     
    Im Prinzip muss man nicht über die Minenfelder gehen. Es gibt andere Wege, über die Grenze zu gelangen, die gut funktionieren, solange nichts Unvorhergesehenes passiert. Der Zorn selbst musste nur ein einziges Mal ein Minenfeld überqueren. Aber selbst wenn, wäre das kein Problem: Die FSA hat einen drei Meter breiten Korridor mitten durch die verminte Zone freigeräumt, vor zwei Monaten, zwei Wochen nachdem die Armee die Minen gelegt hatte. Ein junger Mann hat dort seine Beine verloren. Die Männer scherzen: »Bumm!«, und machen eine Geste, die Engelsflügel imitieren soll, beide Hände auf den Schultern. Der Korridor ist mit Steinen markiert und wird regelmäßig von Schmugglern genutzt. Der Zorn: »Wenn wir da durchmüssen, gehe ich voran. Eure Leben sind wichtiger als meins.« Pathetisch, aber aufrichtig.

 
    Dienstag, 17. Januar
    Tripoli – Grenze – Qusair
     
     
    5.30 Uhr. Muezzinruf. Sehr schön, massiv verstärkt, schneidet er durch die Nacht.
     
    6.50 Uhr. Aufstehen. Bleary grey morning . Im Wohnzimmer warten schweigend die beiden libanesischen Schleuser.
     
    7.30 Uhr. Abfahrt. Weißer Minivan, mit Fernseher, wie ein kleiner Bus. Einer der Libanesen fährt. Musik voll aufgedreht und Videos. Wir schlängeln uns unter sintflutartigem Regen durch den Verkehr von Tripoli. Dann Vororte, Fabriken. Wir werden einen großen Umweg fahren müssen, die Gebirgspässe sind vom Schnee blockiert. Wir müssen auch zwei Checkpoints der libanesischen Armee umfahren. Normalerweise wäre der kürzeste Weg der Richtung Norden.
     
    Wir fahren durchs Libanon-Gebirge, kurvenreiche Straße, kahle Landschaft, kleine Wölkchen, die sich an die Bergkämme klammern, weicher Schnee, der auf dem Auto schmilzt. Checkpoint passiert, ohne anzuhalten. Einmal nehmen wir einen Soldaten ein Stück mit, ich habe mich hingelegt, öffne kurz ein Auge und schlafe wieder ein. Wir lassen den Soldaten in einer schiitischen Ortschaft aussteigen, in der es von Militär wimmelt. Auf einem langen Feldweg durch eine wüstenartige Ebene werde ich aufgeweckt, auf einer Seite das bewölkte Libanon-Gebirge, auf der anderen ein Dorf, das sich an den Fuß der kleinen Berge schmiegt. Vor uns liegt Syrien. Wir fahren an Ackerbauern und Schafen vorbei. Endlich, nach ein paar holprigen Kilometern, erreichen wir eine Straße und haben den Grenzposten der libanesischen Sicherheitskräfte hinter uns gelassen. Geld wechselt den Besitzer: Der Zorn gibt dem Libanesen 700 Dollar, vielleicht für uns, dann nochmal 1000 Dollar für Besorgungen, scheint es – vielleicht für das Schmuggeln von Mörsern? Auf der Straße eine Moschee der Hisbollah, wir sind in der Nähe eines schiitischen Dorfs; wie die Bekaa-Ebene ist auch dieser Landstrich ein konfessionelles Mosaik.
    Der Zorn: »Die Mehrzahl der sunnitischen Dorfbewohner unterstützt den Aufstand, mit einigen Ausnahmen; bei den Schiiten ist es genau umgekehrt.« Auf der Straße treffen wir drei junge Männer auf zwei rostigen Motorrädern, alten chinesischen Klapperkisten; es sind Ackerbauern aus der Gegend mit schwieligen Händen. Wir begrüßen die libanesischen Freunde, dann steigen wir je zu dritt auf ein Motorrad und fahren zwischen Häusern und Feldern hindurch unbefestigte Wege entlang. Ärmlich gekleidete, rotznäsige Kinder, Schafe, Bienenstöcke, ein Junge, der auf einem Pferd galoppiert. Ein paar Kilometer und wir sind bei einem Haus, schon jenseits der Grenze. Wir sind zwischen einem Posten der libanesischen Spezialkräfte und einem Posten der syrischen Armee hindurchgefahren. Aber die Grenze ist ein sich in die Tiefe ausdehnendes Konzept, keine Linie.
     
    Die »Grenze« beschränkt sich nicht auf die in den Karten eingezeichnete Linie, sondern erstreckt sich noch über zig Kilometer weiter, dank eines Systems von festen und mobilen Straßensperren. Für die Bewohner der Dörfer, die halb auf der einen, halb auf der anderen Seite der Linie liegen, existiert sie praktisch nicht oder allenfalls als ökonomisches Konzept, das es ihnen erlaubt, von einer Seite auf die andere Geschäfte zu machen.
     
    Jetzt sind wir bei Leuten zu Besuch, Ackerbauern und ihren Familien. Kaffee, die Väter streicheln ihre Söhne. Ein Funkruf, alles ist bereit, weiter geht’s. Über die Grenze. Ein paar hundert Meter weiter ein anderes Haus, wo wir ins Empfangszimmer geführt werden. SMS auf Raeds Handy: MINISTRY OF TOURISM WELCOMES YOU IN SYRIA . PLEASE CALL 137
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