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Notaufnahme

Notaufnahme

Titel: Notaufnahme
Autoren: Linda Fairstein
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nochmals und folgte Mike in großem Bogen um den blutigen Teppich herum zur Tür. Als ich runtersah, um nicht auf Gemmas tödliche Spur zu treten, blieb mein Blick an einem großen, dunkelroten Fleck hängen, der auf dem blassblauen Dhurrie beinahe wie ein absichtlich verursachtes Zeichen hervorstach. Der Fleck war gleichmäßig und deutlich – im Gegensatz zu den unregelmäßigen, verlaufenen Flecken, von denen der Rest des Teppichs übersät war.
    »Was könnte das sein, Mercer?« fragte ich über meine Schulter hinweg, da er immer noch hinter mir stand.
    »Was ist was?«
    »Der Abdruck auf dem Teppich, da, im Blut.«
    »Ich glaub’, du siehst Gespenster, Coop. Da ist nur Blut, sonst nichts.«
    Auch Mike hatte sich hinuntergebeugt, und gemeinsam betrachteten wir den Fleck, den ich entdeckt hatte. »Sieht aus wie eine Brandmarke oder ein Stempel. Vielleicht der Abdruck irgendeines Gegenstandes – einer Gürtelschnalle, eines Hakens oder etwas Ähnliches. Die Spurensicherung hat’s fotografiert.«
    Meiner Meinung nach sah der Fleck ganz anders aus. »Mich erinnert es eher an etwas Geschriebenes, an einen Teil eines Worts.«
    Chapman war anderer Ansicht. »Sie hatte keine Kraft zum Atmen mehr, Blondie, geschweige denn zum Schreiben. Sie hat sich von dieser Welt verabschiedet und keine Einkaufsliste geschrieben.«
    Ich antwortete ihm nicht und zeichnete für Mercer die Form in der Luft nach. »Sieht aus wie ein F, ein großes F – oder vielleicht auch wie ein R, aber mit Ecken statt Rundungen … und dann ein Schwanz in diese Richtung«, sagte ich und zog eine unsichtbare Linie von dem Buchstaben, den ich skizziert hatte, nach links unten. »Findet ihr nicht?«
    »Deine Videoleute sollen es auf alle Fälle mal aufnehmen, Alex, aber ich glaube, du wirst hier Opfer deines Wunschdenkens.«
    »Lass mir doch bitte ein Polaroid davon machen, Mercer«, bat ich.
    Er nickte zwar geduldig, pfiff aber schon den alten Temptations-Song »Just my Imagination«, während er sich eine Notiz machte.
    Mike hielt uns die Tür auf, schloss sie, nachdem Mercer den Raum verlassen hatte, und gab dem uniformierten Polizisten die Anweisung, niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis des Chiefs das Büro betreten zu lassen. Dann folgte er uns den Gang entlang. »Ich hab’ jetzt schon dein Resümmee im Ohr. Ich kann deine dramatische Beschreibung des Fingers, der aus dem Grab heraus auf den Mörder zeigt, förmlich hören. Nicht schlecht, Cooper. Die Geschworenen werden sich darüber amüsieren, aber die Presse liebt dich dafür.«

4
    Um halb neun parkte ich meinen Cherokee in der schmalen Straße vor der Bezirksstaatsanwaltschaft. In meiner Tasche kramte ich nach der Ausweismarke, die ich brauchte, um ins Gebäude zu kommen. Dann holte ich mir bei dem Verkäufer, der jeden Morgen mit seinem Rollwagen an der Ecke zur Centre Street stand und Gebäck und Getränke anbot, meinen dritten Kaffee. Der Wachmann am Eingang der Bezirksstaatsanwaltschaft war zu vertieft in sein Tittenmagazin, um mich überhaupt zu bemerken.
    Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, spätestens um acht an meinem Schreibtisch zu sitzen, denn schon gegen neun kam Leben in die Bude: Anwälte, Polizisten, Zeugen, Geschworene und Verbrecher aller Art tummelten sich in den Gängen, und dazu kam das nervtötende Klingeln von tausend Telefonen, die den ganzen Tag nicht stillstanden. In dieser einen ruhigen Stunde am Morgen konnte ich mir Gedanken über meine laufenden Fälle machen, Akten durchblättern, die Berichte analysieren, die meine Assistenten angefertigt hatten, und einige Rückrufe machen.
    Ich war auf meinem Gang die Erste. Ich schaltete die Flurbeleuchtung ein, schloss die Tür zu meinem Büro auf und hängte meinen Mantel in den schmalen Spind in der Ecke des Raumes. Es war warm und stickig, also schlüpfte ich aus meinen Schuhen, stieg auf den Computertisch meiner Sekretärin Laura und bearbeitete mit einem Schraubenzieher das Thermostat der Klimaanlage, das ein sadistischer Ingenieur hinter einem Metallgitter in unerreichbarer Höhe angebracht hatte. Nachdem ich die Temperatur auf ein erträgliches Maß heruntergedreht hatte, ging ich an die Arbeit. Meine Kollegen und ich waren Tag für Tag für die Sicherheit von Millionen Einwohnern und Besuchern Manhattans verantwortlich – aber offenbar sollte es uns nicht gestattet sein, die Temperatur in unseren winzigen, schäbigen Büros im Gerichtsgebäude selbst zu bestimmen.
    Ich wählte die Nummer meiner
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