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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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der Couch in seinem Arbeitszimmer.
    Ich rieche an den Kissen. Erst an dem rechten, dann an dem linken. Aber da ist nichts, außer dem Waschmittelduft mit einem zarten Hauch von Zitrone.
    Aus meinem Koffer hole ich mein Buch über Revolverhelden. Ich schlage es wahllos auf und stoße auf den Namen William Doolin. Das war ein übler Gauner, der im Wilden Westen zur Dalton-Bande gehörte und Züge überfiel. Erwischt hat es ihn 1896 in Lawson, Oklahoma. Ein Sheriff namens Heck Thomas hatte sich mit seinen Leuten auf die Lauer gelegt, um den Verbrecher zu stellen. Als Doolin sich nicht ergeben wollte, schossen sie ihm erst das Gewehr aus der Hand und dann einundzwanzig Kugeln in die Brust. Eigentlich glaube ich nicht an einen Zusammenhang, aber dass ich ausgerechnet diese Seite aufgeschlagen habe, macht mir ein bisschen Sorgen.
    Trotzdem schlafe ich kurz darauf ein.

 

    Ich werde von einem lauten Klirren und Scheppern geweckt. Es kommt von draußen vor dem Fenster, da wo unsere Terrasse ist.
    Als ich hinausschaue, sehe ich Mel, die gerade die Scherben eines Tellers zusammensammelt. Es ist einer von den handbemalten, die wir von Großmutter geerbt haben und die mindestens hundert Euro wert sind, pro Stück.
    „War nur ein Teller!“, ruft Mel mir zu, als sie mich am Fenster entdeckt. „Komm runter! Ich habe schon Frühstück gemacht.“
    Tatsächlich. Der Terrassentisch ist gedeckt und ich kann von hier oben Knäckebrot und Zwieback, Marmelade, Honig, Butter und die Schokopaste erkennen, die Papa immer aus Frankreich mitbringt. Es gibt sogar Fruchtsalat.
    „Beeil dich, sonst wird der Salat kalt“, ruft Mel mir zu und lacht.
    Ich lache auch, weil ich mich plötzlich wahnsinnig frei fühle. So als könnte ich alles tun, was ich wollte.
    Schnell ziehe ich mich an und laufe die Treppe hinunter. Als ich auf der Terrasse ankomme, sitzt Mel schon am Tisch und schmiert sich einen Zwieback mit Marmelade.
    „Frisches Brot gab es leider nicht und auch keine Nutella. Nur diese eklige braune Paste hier.“ Mel hält das Glas mit der französischen Schokocreme hoch. „Aber die schmeckt nicht.“
    „Macht nichts“, erwidere ich und verzichte darauf, ihr zu erklären, dass die eklige braune Paste viel, viel besser ist, weil sie nur aus Schokolade und Nüssen besteht, ohne extra Zucker und die ganzen Zusatzstoffe, die die großen Konzerne dazumischen.
    Ich nehme mir eine Portion von ihrem Fruchtsalat und das scheint sie wirklich zu freuen. Stolz strahlt sie mich an und verfolgt dabei, wie der Löffel in meinem Mund verschwindet.
    „Den Fruchtsalat habe ich extra für dich gemacht! Schmeckt er dir?“, fragt sie erwartungsvoll.
    „Hmmm!“, mache ich begeistert, weil ich mittlerweile richtig gut im Lügen bin. Ihr Salat ist einfach grauenhaft. Mel muss den Ahornsirup mit dem Zwiebelchutney verwechselt haben. Das kann passieren, weil beides in etwa die gleiche Farbe hat. Nur dass das Chutney eben nicht süß, sondern ziemlich salzig und auch ziemlich sauer ist.
    „Das freut mich!“, erklärt Mel zufrieden und beißt in ihren Zwieback.
    Ich brauche vier Knäckebrote mit Schokocreme, um den Chutney-Geschmack wieder loszuwerden.
    Wir frühstücken eine Weile, ohne ein Wort zu sagen. Ist auch gar nicht nötig. Die Sonne scheint, es sind Ferien, wir haben ein Haus für uns alleine und der Kühlschrank ist voll. Alles ist irgendwie perfekt, abgesehen davon, dass ich Mel irgendwann die Wahrheit sagen muss. Vielleicht schweige ich deswegen lieber, um nicht noch mehr schwindeln zu müssen. Schwindeln ist überhaupt das bessere Wort, das klingt nicht so hart wie lügen.
    Mel ist diejenige, die nach einer Weile das Schweigen bricht.
    „Weißt du zufällig, wie lange die Leute Urlaub machen?“
    „Welche Leute?“
    „Na die, die hier wohnen. Die, denen dein Vater den Rohrbruch stopfen musste.“
    „Vier Wochen“, antworte ich, weil ich das zufällig ganz genau weiß.
    „Vier Wochen“, wiederholt Mel. „So lange könnte ich es hier locker aushalten.“
    „Vermisst dich denn niemand?“
    „Ich habe Nervmama heute Morgen eine SMS geschickt“, antwortet Mel und klopft sich auf den Stoff ihrer Hosentasche, durch den man den Abdruck ihres Handys erkennen kann.
    „Und die Leute von dieser Kinderfreizeit?“
    „Denen ist doch völlig egal, ob sie vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Kinder dabeihaben“, erwidert Mel und steht auf. „Komm mit! Ich zeig dir was Abgefahrenes!“
    „Abgefahrener als das Kino gestern?“
    „Yep, viel
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