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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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ganz anderem gefesselt.
    Mel nutzt das aus und sticht schnell mit dem Florett zu.
    „Ha! Jetzt sind wir quitt!“, ruft sie und reißt jubelnd die Arme in die Höhe, so als hätte sie gerade eine olympische Goldmedaille gewonnen.
    Ich spüre den Treffer kaum, weil ich, wie gesagt, etwas abgelenkt bin.
    Über den Rasen kommt unser Nachbar, Doktor Schneider-Wagenfels, auf uns zugelaufen. Trotz der Fechtmaske hat er mich erkannt und winkt mir.
    „Paul-Philipp! Was machst du denn hier?“, ruft er, aber zum Glück ist er noch so weit weg, dass er kaum zu verstehen ist.
    Jetzt hat Mel ihn auch entdeckt.
    „Schnell weg!“, sagt sie und diesmal bin ich ganz ihrer Meinung.
    Wir rennen nebeneinander über den Rasen in Richtung See. Wir haben nicht darüber gesprochen. Irgendwie ist uns beiden trotzdem klar, dass wir zum Steg müssen. Dahin, wo das Boot liegt.
    Wir erreichen die hölzernen Bohlen mit etwa hundert Metern Vorsprung vor Doktor Schneider-Wagenfels. Das kann ich sehen, als ich mich kurz umdrehe.
    Mel springt als Erste an Deck. Ich hüpfe hinterher und laufe direkt zum Steuerruder.
    „Kannst du so was fahren?“, fragt mich Mel.
    Ich nicke nur und suche nach dem Schlüssel. Doktor Schneider-Wagenfels hat uns fast erreicht, aber er ist zu sehr außer Atem, als dass er meinen Namen rufen könnte.
    Endlich finde ich den Schlüssel hinter der hochgeklappten Sonnenblende, stecke ihn mit zitternden Fingern in den Anlasser, starte den Motor und gebe Gas.
    Aber wir kommen nicht vom Fleck. Das heißt, ein paar Meter schon, doch dann ist Schluss.
    „Toll, Herr Kapitän! Ganz toll! Vielleicht sollte man erst mal die Leine losmachen!“, ruft Mel, geht an die Reling und macht das Tau los.
    Sofort schießt das Schiff wie eine Rakete auf den See hinaus.
    Im gleichen Augenblick donnert es und das Gewitter, das schon den ganzen Tag über dem See auf den richtigen Zeitpunkt gewartet hat, entlädt sich mit dem Lärm von fünfundzwanzig startenden Jumbojets.

 

    Ich stehe am Steuer und versuche, den Kurs zu halten. Das ist nicht einfach, weil ich erstens keine Ahnung habe, welchen Kurs ich überhaupt halten soll, es zweitens inzwischen stockfinster ist und mir drittens der Regen ins Gesicht schlägt, als würde mich jemand mit Stahlnägeln bewerfen. Zum Glück habe ich immer noch die Fechtmaske auf. Auch wenn das bestimmt albern aussieht, hilft sie gegen die peitschenden Wassertropfen. Mel hat sich unter Deck verzogen, wo es eine geräumige Kajüte mit zwei Betten und einer kleinen Küche gibt.
    „Das musst du dir ansehen!“, ruft sie von unten.
    Ich kann nicht, weil ich das Boot steuern muss. Und solange sie keine Leiche mit einer Kugel im Kopf gefunden hat oder einen Koffer randvoll mit Drogengeldern, würde sie mir nichts Neues zeigen. Aber so etwas passiert immer nur in Büchern oder Filmen und nicht im wirklichen Leben.
    Weil ich nicht sofort gucken komme, streckt Mel ihren Kopf durch die Kajütentür. Genau in dem Augenblick schlägt eine Welle über Bord und ihr mitten ins Gesicht. Mel stört das nicht. Sie schüttelt die nassen Haare und brüllt begeistert: „Es gibt Tiefkühlpizza im Kühl…!“
    Den Rest verstehe ich nicht, weil es wieder gewaltig donnert. Mels Entdeckung überrascht mich nicht. Mein Vater hat die Tiefkühlware besorgt, da ihm die winzige Kombüse für richtiges Kochen zu klein ist. Er hat deswegen schon vor einem Jahr ein größeres Schiff bestellt, aber das wird erst im Herbst geliefert, weil mein Vater so viele Sonderwünsche in Auftrag gegeben hat.
    Das Schiff schaukelt wie wild hin und her und ich spüre, wie mir langsam übel wird. Der Gedanke an Tiefkühlpizza gibt mir den Rest und wenn ich nicht gut aufpasse, kotze ich Mel gleich vor die Füße.
    Ich habe schon ein paarmal erlebt, wie sich der See bei Unwetter in ein stürmisches Meer verwandelt hat. Aber so schlimm wie heute war es noch nie. Obwohl ich nicht weiß, wie wild es sonst bei einem Sturm hier draußen auf dem Wasser zugeht, weil natürlich niemand so blöde ist, während eines Unwetters sein Boot in die Mitte des Sees zu steuern. Was ich sagen will, ist, dass die Stürme vom Ufer aus nicht einmal halb so stürmisch aussahen wie jetzt. Die Wellen sind jedenfalls ziemlich hoch, viel höher, als man sie auf einem Binnengewässer erwarten würde. Dazu züngeln Blitze vom Himmel herunter. So als würde irgendwer dort oben flüssiges Metall auf die Erde tropfen lassen, um zu sehen, welche Form es annimmt, wenn es zwei Kilometer
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