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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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abgefahrener und das kannst du ruhig wörtlich nehmen.“
    Zögernd erhebe ich mich. Ich habe eine böse Vorahnung und wäre lieber noch ein bisschen sitzen geblieben. Bis eben war alles so schön friedlich.
    Mel führt mich zu unserem Schuppen, in dem die Gartengeräte gelagert werden. Schaufeln, Rechen, Spaten und unser Sitzrasenmäher. Den muss man sich vorstellen wie einen Rollstuhl mit Motor und scharfen Messern, die beim Fahren die Grashalme einen Kopf kürzer machen.
    „Ich habe ihn vorhin ausprobiert, als du geschlafen hast“, erklärt Mel und zeigt auf ein Blumenbeet, auf dem nur noch ein paar kurz rasierte Stängel stehen. „Er läuft!“
    Klar läuft der, mein Vater hat mit der Herstellerfirma einen Wartungsvertrag, der ihn ein Vermögen kostet.
    „Darf ich Sie zu einer kleinen Rundfahrt über unsere Ländereien einladen?“ Mel steigt auf den Rasenmäher und klopft einladend auf den freien Platz neben sich. Das Sitzpolster ist so groß, dass wir da bequem nebeneinander draufpassen.
    Kaum habe ich mich gesetzt, heizt sie los. Ich bezweifle, dass unser Gärtner schon mal ausprobiert hat, wie schnell der Mäher fahren kann. Mel holt das Letzte aus dem Gerät raus und massakriert dabei unsere Rosenbüsche und noch ein paar andere Blumen, auf deren Zucht mein Vater besonders stolz ist. „Super, oder?“, brüllt Mel. Sie muss schreien, weil der Dieselmotor so laut ist.
    „Super, ganz super!“, erwidere ich wenig begeistert, weil ich mich mit beiden Händen festklammern muss, um nicht von der Sitzbank zu fallen und unter die rotierenden Messer zu geraten. Außerdem bezweifle ich stark, dass der Lärm gut ist, wenn wir unentdeckt bleiben wollen. Wir tun zwar nichts Verbotenes, dennoch wäre es ziemlich unangenehm, wenn ich einem der Nachbarn erklären müsste, was ich in unserem Garten mit einem fremden Mädchen mache, wo ich doch eigentlich in Florida oder Indonesien sein sollte.
    Mel stoppt den Rasenmäher am See, genau an der Stelle, wo der Steg ins Wasser führt. Dort wartet auch schon die nächste Überraschung auf sie: unser Boot.
    Eigentlich ist es schon fast ein Schiff, obwohl ich nicht genau weiß, was der Unterschied ist. Schiffe sind größer, aber wie groß muss ein Boot sein, damit es ein Schiff ist?
    „Das wird ja immer besser!“, sagt Mel und ich kann sie nur mit Mühe davon abhalten, an Bord zu springen.
    „Lass uns zurück zum Haus. Es sieht nach Regen aus“, erwidere ich und das stimmt. Am Horizont versammeln sich dunkle Wolken, als würde ein Feldherr dort seine Truppen zusammenziehen. „Das Boot schwimmt uns nicht weg. Das ist heute Nachmittag auch noch da.“
    Mel zuckt die Schultern und steigt wieder auf den Fahrersitz.
    „Und falls möglich, zurück bitte etwas langsamer. Wir müssen schließlich nicht die ganze Gegend auf uns aufmerksam machen. Da könnten wir gleich eine Anzeige in die Zeitung setzen, dass man uns hier abholen kann!“
    „Elvis Cheyenne Schisser!“, murmelt Mel und gibt Gas. Aber nur ganz leicht, sodass wir in gemütlichem Tempo zurück zur Villa zockeln.
    Als wir wieder an der Terrasse ankommen, läuft Mel schnell ins Haus, weil sie dringend aufs Klo muss. Ich bleibe noch ein bisschen draußen. Die Wolken kommen nicht so schnell näher, wie ich befürchtet habe, und eigentlich mag ich die Zeit vor einem Sturm. Man spürt, dass etwas in der Luft liegt, weiß aber noch nicht, wie schlimm es wird. Das ist so ähnlich wie in der Schlange vor einer der Mega-Achterbahnen in Disneyland. Also dem echten, dem in Orlando, nicht dieser Mini-Kopie bei Paris.
    Als Mel zurückkommt, hat sie meine Fechtsachen an: weiße Jacke, Handschuhe und die Maske. Sie sieht aus wie eine Weißwurst kurz vorm Platzen. Aber das würde ich ihr nie sagen, weil sie in der rechten Hand mein Florett hält.
    „Ich bin Artagon, der Tapferste der drei Musketiere! Stirb, du elender Ausbeuter der Armen und Entrechteten!“, brüllt sie und fuchtelt mir mit der Klinge vor der Nase herum. „Dein letztes Stündlein hat geschlagen, du stinkreicher Pfeffersack!“
    Sie hat mich durchschaut!, schießt es mir durch den Kopf. Irgendetwas in meinem Zimmer muss mich verraten haben. Vielleicht hat sie ein Foto von mir gefunden und eins und eins zusammengezählt.
    „Ich kann das erklären …“, sage ich, aber Mel hört mir gar nicht zu, sondern zeigt auf den Park und brüllt. „Da vorne kommen die feindlichen Heere! Sie sind in der Überzahl, hundert gegen einen, aber wir werden sie besiegen. Einer
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