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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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sicher, ob sie nicht wieder irgendeine Krankheit nachspielt.
    „Mein Spray! In meiner Jacke!“, röchelt sie atemlos und das macht mir Angst, große Angst, um ehrlich zu sein, auch wenn ich es immer noch für möglich halte, dass sie sich nur über mich lustig macht. Aber darauf lasse ich es nicht ankommen. Ich rase aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Es dauert eine Weile, bis ich Mels Jacke gefunden habe.
    In der rechten Jackentasche ist ein Handy. Es zeigt zehn verpasste Anrufe von Nervmama an. Das kann ich sehen, obwohl ich nur ganz kurz auf das Display spinkse. Ehrlich! Das Spray ist in der linken Tasche. Es ist eine kleine blaue Sprühdose, etwa halb so groß wie eine Zigarettenschachtel.
    Ich schnappe mir das Spray und rase die Treppe wieder hoch. Als ich in unserem Heimkino ankomme, bin ich so außer Atem, dass ich das Zeug selber gut gebrauchen könnte.
    Mels Röcheln ist noch lauter geworden und erinnert an einen fauchenden Drachen, der kurz davor ist, einen Ritter zu rösten. Das klingt komisch, ist es aber nicht. Weder für Mel noch für den Ritter.
    Sie reißt mir das Spray aus der Hand und steckt es sich in den Mund. Dann drückt sie zweimal kräftig zu und ich höre es zischen. Mel atmet tief durch, und ich kann dabei zusehen, wie es ihr von Sekunde zu Sekunde besser geht.
    „Danke, Elvis“, sagt sie, nachdem sie sich wieder etwas erholt hat.
    „Kein Ursache“, winke ich verlegen ab. „Hast du das schon lange?“
    „Ein paar Jahre“, erwidert Mel und ich spüre, dass sie nicht gerne darüber redet.
    „Und woher kommen diese Anfälle? Das muss doch irgendeinen Auslöser haben?“
    „Weiß man nicht so genau.“
    Mel schaut auf die Leinwand, aber ich merke, dass sie der Film nicht mehr interessiert. Die Bilder und Töne rauschen an uns vorbei, als würde sich da vorne die Trommel einer Waschmaschine drehen.
    „Übrigens hat Nervmama angerufen. Ist das deine Mutter?“, sage ich nach einer Weile.
    „Nein“, erwidert Mel und auch darüber scheint sie nicht gerne zu sprechen.
    „Sind deine Eltern geschieden?“, will ich wissen.
    „Nö, aber die haben beide eine Baby-Allergie.“
    „Wie bitte?“
    „Als ich drei Monate alt war, kriegten die überall Ausschlag. So ganz üble, eitrige Pusteln am ganzen Körper. Wie bei Leuten, die sich eine Katze anschaffen und die Haare von dem Viech nicht vertragen und deswegen immer niesen müssen. Nach einem halben Jahr haben sie mich wieder zurückgegeben und ich bin in ein Heim gekommen, so eine Art Tierheim, nur eben für Menschen.“
    „Echt? Das ist ja schrecklich!“
    Mel sieht mich mitleidig an, so von wegen Dir kann man auch alles erzählen. „Hey, das war ein Scherz. Ich weiß nicht, was mit meinen Eltern ist. Seit ich klein bin, lebe ich bei Pflegeeltern. Ich habe noch einen Bruder, aber der wohnt in Rostock, das liegt irgendwo an der Ostsee.“
    „Und wo wohnst du?“
    „In einer kleinen Wohnung. Wir sind fünf. Ich, meine Pflegeeltern und noch zwei weitere angenommene Kinder.“
    „Vielleicht kommt das Asthma daher. Vielleicht ist Schimmel in den Wänden oder so was?“
    „Das ist eine Wohnung, kein Loch! Du guckst zu viel Nachmittagsfernsehen!“, sagt Mel und schüttelt den Kopf. „Dass wir nicht viel Geld haben, heißt doch nicht, dass es zum Dach reinregnet und wir den ganzen Tag Katzenfutter fressen müssen.“
    Ich gebe zu, so ähnlich hatte ich mir das tatsächlich vorgestellt. Eine Wohnung mit feuchten Wänden und einem klapprigen Küchentisch, an dem sich fünf ausgehungerte Gestalten um den Inhalt einer Dose Katzenfutter prügeln. Habe ich nämlich mal gelesen in einem Buch, das spielte in England vor rund zweihundert Jahren, und jetzt fällt mir ein, dass es gar kein Katzenfutter war, sondern eine gebratene Katze, um die sich die armen Schlucker geprügelt haben. Aber das ist ja auch lange her, und die Lage hat sich in der Zwischenzeit sicherlich gebessert, nehme ich mal an.
    Keiner von uns beiden hat Lust, sich das Ende des Films anzuschauen. Die Stimmung ist irgendwie raus.
    „Ich bin müde“, sagt Mel. „Ich suche mir ein Zimmer und lege mich pennen.“
    Mel wählt natürlich ausgerechnet mein Zimmer aus. Sie schleppt ihren Rucksack hinein, ruft „Gute Nacht“ und knallt die Tür hinter sich zu. Ich schnappe mir meinen Rollkoffer und ziehe ins Schlafzimmer meiner Eltern. Das Bett ist frisch bezogen, obwohl darin schon lange niemand mehr geschlafen hat. Seit meine Mutter ausgezogen ist, übernachtet mein Vater auf
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