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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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eingebrochen ist.“ Mel grinst und setzt sich die Maske auf. „Hey, stell dich nicht so an! Guck dich doch um, der Möchtegern-Zorro merkt das garantiert nicht mal. Und wenn, entschädigt ihn bestimmt irgendeine Versicherung oder sein Papa!“
    Ich sehe mich in meinem eigenen Zimmer um, und ehrlich gesagt, kann ich verstehen, warum Mel das denkt.
    Dinge, die einem hier sofort ins Auge springen:
    • meine nagelneue Stereoanlage, die an vier riesige Boxen angeschlossen ist,
    • alle Spielekonsolen, die derzeit auf dem Markt sind,
    • eine Lounge-Ecke, wo bequem fünf Leute Platz finden,
    • ein uralter Flipperautomat, der jahrelang in einer Kneipe stand und auch so aussieht,
    • ein Multimedia- PC , der auf den ersten Blick wie neu wirkt,
    • die Schaufensterpuppe, die meine Fechtausrüstung trägt,
    • und mein Bett.
    „Schau dir nur mal diese Liegewiese an!“, sagt Mel und klettert auf meine Matratze. Spätestens jetzt bin ich heilfroh, dass sie ihre Schuhe ausgezogen hat.
    „So groß ist das gar nicht“, erwidere ich halbherzig.
    „Stimmt! Das ist nicht groß. Das ist gigantisch. Da könnte meine ganze Familie drauf schlafen, und wir sind fünf zu Hause!“
    Das ist das erste Mal, dass sie was von sich erzählt, und davon würde ich gern mehr hören. Aber Mel plappert schon weiter, während sie auf meinem Bett wie auf einem Trampolin herumhüpft.
    „Yep, ich kenne Leute, die teilen sich zu zehnt eine Wohnung, die kleiner ist als dieses Zimmer. Den Typ, der hier wohnt, haben sie bestimmt schon als Baby mit Kaviar gefüttert.“
    „Jetzt übertreibst du“, sage ich und das meine ich ernst. Ich mag das Zeug nämlich überhaupt nicht.
    „Und guck dir das Poster da an! Wer sich so was ins Zimmer hängt, ist doch nicht normal. Der hat sie nicht mehr alle!“, fährt Mel fort und zeigt auf ein Bild, das in einem großen Holzrahmen an der Wand hängt.
    Es ist das Originalgemälde eines berühmten Malers, das mir mein Vater zum zehnten Geburtstag als Geldanlage geschenkt hat. Ich würde es aber nie verkaufen, nicht mal für hundert Millionen Euro. Ich mag das Gemälde. Es sind zwar nur ein paar bunte Striche, Kreise und Punkte, aber mir sagt das was.
    „Du brauchst echt keine Gewissensbisse wegen der Kohle zu haben! Stell dir einfach vor, du bist Robin Hood. Du nimmst es den Reichen und gibst es den Armen!“
    „Und wer sind die Armen?“, frage ich.
    Sie zieht die Fechtmaske ab. „Na, wer wohl? Wir natürlich!“, erwidert sie und grinst mich zufrieden an.
    Mel steigt vom Bett und geht auf das Regal zu, in dem ich meine Zuckerwürfelsammlung nach Kontinenten sortiert habe. Sie fängt bei Asien an und stopft sich einen Würfel nach dem anderen in den Mund. Die Sammlung hat mich drei Jahre gekostet und die Würfelzucker aus Asien sind besonders schwer zu kriegen.
    „Lecker“, murmelt Mel schmatzend.
    Weil der asiatische Teil meiner Sammlung sowieso nicht mehr zu retten ist und Mel mir den Rücken zudreht, um weitere Würfelzucker auszupacken, nutze ich die Gelegenheit, endlich meine zerrissene Hose zu wechseln. Ich schnappe mir eine neue aus dem Schrank und – oh Wunder! – die passt mir wie angegossen.
    Mel dreht sich genau in dem Moment um, als ich den Reißverschluss zuziehe.
    „Siehst du! Du bedienst dich auch aus fremden Schränken“, sagt sie und zeigt auf die Hose. „Und wenn du mir immer noch nicht glaubst, dass die Leute hier ein paar Euro entbehren können, zeige ich dir jetzt was wirklich Abgefahrenes!“
    Ich habe Angst, dass sie mich zu unserer Sauna führen will. Die hat mein Vater in Finnland abbauen und in unserem Keller wiederaufbauen lassen. Ich würde Mel zutrauen, dass sie die gleich ausprobieren will.
    Aber sie führt mich in einen anderen Raum.
    „Hast du so was schon mal gesehen?“, fragt sie.
    Klar, schon tausendmal, denke ich, halte aber den Mund.
    „Das ist der reine Wahnsinn!“, ruft sie und schmeißt sich in einen der beiden dicken Ledersessel, die vor der großen Filmleinwand stehen. Es ist unser Heimkino, in dem mein Vater und ich uns regelmäßig Filme über den Beamer anschauen, und ehrlich gesagt, ist das die einzige Zeit, wo wir uns neunzig Minuten lang wie Vater und Sohn fühlen. Irgendwie tief verbunden. So, wie es sein sollte.
    „Schau mal, hier! Das müssen alle Filme sein, die es überhaupt gibt“, ruft Mel.
    Sie hat die Regale entdeckt, die rechts und links an den Wänden bis hoch zur Decke gehen und von schweren Vorhängen verborgen werden. Andere
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