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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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nicht denken soll, mein Vater hätte keine Zeit für mich, und das sofort meiner Mutter petzt.
    Sie rufe ich zuerst an.
    „Hallo!“
    „Wer ist da?“
    „Ich bin es, dein Sohn.“
    „Sag das doch gleich.“
    „Bist du beleidigt, weil ich mit Papa in Urlaub fahre?“
    „Wie kommst du denn darauf? Wir haben dir die Wahl gelassen und du hast dich entschieden. Du bist ein freier Mensch, so haben wir dich erzogen. Wie kann ich da beleidigt sein?“
    Klar ist sie beleidigt.
    „Ich wollte mich auch nur kurz bei dir melden und außerdem soll ich dich von Papa grüßen.“
    Den letzten Satz ignoriert meine Mutter. Wahrscheinlich glaubt sie mir das mit den netten Grüßen nicht.
    „Schön, dass du anrufst, aber es passt gerade ganz schlecht. Ich steh hier in einem Laden und die haben …“
    „Der Flug 2234 nach Miami steht jetzt zum Einchecken bereit.“
    Das war das Tonbandgerät.
    „Ich muss sowieso Schluss machen“, sage ich und schalte es wieder aus.
    „Genieß deinen Urlaub. Ich hab dich lieb.“
    „Ich dich auch“, erwidere ich, aber da hat sie schon aufgelegt.
    Das ging besser, als ich befürchtet hatte.
    Als Nächstes ist mein Vater dran.
    „Hallo, Papa!“, sage ich, damit es diesmal keine Verwirrung gibt.
    „Hallo, mein Junge! Alles klar?“
    „Alles klar. Ich wollte mich nur melden.“
    „Seid ihr schon am Flughafen?“
    „Der ICE 143 nach München hat heute 45 Minuten Verspätung.“
    Verdammt, das war die falsche Ansage.
    „Sag mal, wo steckst du denn überhaupt?“
    „Am Flughafen war Nebel“, lüge ich – das kann ich mittlerweile richtig gut – und schaue aus dem Fenster in den strahlend blauen Himmel. „Mama und ich müssen mit dem Zug zu einem anderen Airport.“
    Ich kann durch das Telefon spüren, dass er mir gar nicht richtig zuhört. Ich könnte ihm genauso gut erzählen, dass wir entführt worden sind und nun in einer verlassenen Waldhütte gefangen gehalten werden. Da würde er auch erst bei der Nennung der geforderten Lösegeldsumme wieder aufhorchen.
    „Bist du beleidigt?“, frage ich.
    „Ich? Wie kommst du denn darauf? Ich bin stolz auf dich, dass du Entscheidungen treffen kannst und …“
    Das Gespräch wird von einem lauten Tuten in der Leitung unterbrochen.
    „Da kommt gerade ein anderer Anruf rein, mein Junge. Ist noch was?“
    „Nee, alles gut.“
    „Dann genieß deinen Urlaub und meld dich mal.“
    Damit ist das Telefonat beendet.
    Eigentlich könnte ich stolz sein, weil mein Plan so perfekt aufgegangen ist. Keiner der beiden schöpft Verdacht und irgendwelche elterlichen Gefühle scheine ich auch nicht nachhaltig verletzt zu haben. Trotzdem fühle ich mich irgendwie seltsam.
    Ich gehe zurück zu Mel in die Küche.
    Halt, das stimmt nicht ganz.
    Das mit der Küche schon, aber nicht das mit Mel.

 

    „Mel! Wo steckst du? Mel!“, rufe ich panisch. Bestimmt macht sie gerade irgendwelchen Unsinn. Alle Wasserhähne aufdrehen und dann die Abflüsse mit Toilettenpapier verstopfen, zum Beispiel.
    Vielleicht ist ihr die Sache auch zu heiß geworden und sie ist abgehauen. Dann müsste ich endlich nicht mehr lügen.
    Aber irgendwie glaube ich das nicht. Mel hat bis jetzt nicht den Eindruck gemacht, als würde unser Einbruch ihr Gewissen sehr belasten. Ich wäre längst gestorben, wenn das hier nicht mein Haus wäre.
    Zuerst suche ich das Erdgeschoss ab, aber da ist sie nicht. Also gehe ich nach oben. Mit jeder Treppenstufe wächst meine Sorge, dass sie irgendetwas angestellt hat. Ich öffne eine Tür nach der anderen, und natürlich steckt sie ausgerechnet hinter der letzten, und natürlich gehört die Tür ausgerechnet zu meinem Zimmer. Das hätte ich mir auch gleich denken können.
    „Guck mal, was ich gefunden habe“, sagt Mel und hält mir meine Fechtmaske und ein dickes Bündel Euroscheine entgegen. „Das Geld war hinter der Maske! Ein blöderes Versteck hätte der Schnösel sich wirklich nicht aussuchen können!“
    In meinem Zimmer steht eine alte Schaufensterpuppe, die trägt meine Fechtausrüstung inklusive meines Floretts, wenn ich das Zeug nicht zum Training brauche, und bis heute fand ich das Versteck hinter der Maske eigentlich ziemlich einfallsreich.
    „Das sind mindestens tausend Euro“, sagt Mel und lässt das Bündel in der Tasche ihrer Jeans verschwinden.
    Es sind 1.145 Euro, um genau zu sein. Davon wollte ich mir einen neuen Computer kaufen.
    „Das kannst du nicht einfach so einstecken!“, rufe ich ehrlich empört.
    „Du bist der, der hier
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