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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe
Autoren: Kerstin Michelsen
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sondern anscheinend auch die anderen.
    Andreas schob mich in den Aufzug. Er stand hinter mir und schnaufte. Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. Mit eine m Plin g öffneten sich die Türen zum vierten Stock. Meine Nervosität nahm zu, während Andreas mich von neuem anschob. Der Pfleger drückte auf einen Wandschalter, die Tür zu Station C schwang auf.
    „Das ist die Zwischenpflegestation, wir müssen uns anmelden“, erklärte er und stellte mich am Eingang zum Schwesternzimmer ab. „Warten Sie, ich frage eben, auf welchem Zimmer Ihre Schwester liegt.“
    Natürlich wartete ich, was hätte ich auch sonst tun sollen. Ich fühlte mich keineswegs imstande, mich allein auf den Weg zu machen, geschweige denn, Hedda gegenüberzutreten. Plötzlich fühlte ich mich ganz befangen und ängstlich. Mochte Marc in meinen Augen auch noch so ein Langweiler gewesen sein, das hatte er nicht verdient. Niemand verdiente so etwas. Trotzdem war ich froh, dass es Marc getroffen hatte und nicht Hedda, wenn schon jemand hatte sterben müssen.
    Andreas trat hinter mich und der Rollstuhl setzte sich mit einem leichten Ruck in Bewegung. Es war eigenartig, nicht selbst zu beschließen: Jetzt gehe ich dort hin.
    „Es ist da vorne links, Zimmer 404. Aber höchsten s zehn Minuten, okay?“, hörte ich die Stimme über meinem Kopf.
    Ich nickte beklommen.
    „Die Kollegin hat mir eben gesagt, dass Ihre Schwester morgen auf die normale Station verlegt wird. Das sind doch gute Nachrichten. Ich lasse Sie dann kurz allein.“
    Andreas öffnete eine weitere Schieb etür. Hier sah es ganz anders aus als in meinem Krankenhauszimmer. Zahlreiche Apparate und Monitore waren um die Kopfenden der beiden Betten angeordnet. Hedda lag in dem hinteren, zur Fensterseite, das andere war leer. Ihre dunklen, kurzen Locken rahmten ein sehr blasses Gesicht ein. Das rechte Bein lagerte leicht erhöht und steckte vom Oberschenkel bis zu den Zehen in einem langen Gips. An den Seiten sahen Schrauben hervor. Ich wurde an das Bett geschoben, Andreas arretierte die Bremsen, dann hörte ich, wie sich die leichten Schritte seiner Gummisohlen entfernten. Ich hob die Hand und legte sie sanft auf die meiner Schwester, die schlaff und unbeweglich auf der Bettdecke ruhte. Aus dem weiten Ärmel ihres Krankenhaushemdchens kam ein dünner Schlauch heraus, der irgendwo im Gewirr der Schnüre und Schläuche unter den Apparaten verschwand. Hedda schien zu schlafen.
    „Hey, ich bin es“, sagte ich leise, ohne eigentlich mit einer Antwort zu rechnen. Ihre Lider zitterten, dann schlug meine Schwester die Augen auf. Sie sah mich an und lächelte zaghaft. Zugleich rann eine Träne über die mir zugewandte Wange. Das Lächeln verschwand und Hedda stieß ein heiseres Schluchzen aus. Mein Magen zog sich vor Mitgefühl zusammen. Meine arme kleine Schwester! Und all das nur, weil ich die blödsinnige Idee gehabt hatte, in Vallau noch durch die Bars zu ziehen. Hedda und Marc waren bestimmt nicht so wild darauf gewesen, aber mir zuliebe hatten sie mitgemacht. Jetzt kam mir mein Eigennutz kindisch vor. Wir hätten direkt nach dem Besuch bei Mutter nach Hause fahren sollen, dann wären wir nicht mitten in der Nacht im Schneegestöber auf der Autobahn unterwegs gewesen. Irgendwie war das alles  meine Schuld.
    …   meine Schuld … Schuld…verzeih…
    Ich schüttelte mich unwillkürlich, um das Rauschen loszuwerden. Wie ein Echo äffte es meinen letzten Gedanken nach. Dieses Geräusch im Ohr, dachte ich, das ist wirklich nicht normal. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich meine Ärztin darauf ansprechen. Dann konzentrierte ich mich wieder auf Hedda und streichelte ihre kühle Hand.
    „Es tut mir so furchtbar leid“, flüsterte ich und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. „Hast du große Schmerzen?“
    „Nein“, antwortete Hedda. „Die Drogen, die sie einem hier geben, sind erstklassig.“
    „Komm schon, jetzt sag mal ehrlich. Wie geht es dir?“
    Sie biss sich auf die Lippen. Ich fand meine kleine Schwester ganz schön tapfer. Das Sprechen schien sie anzustrengen. Mir lagen so viele Fragen auf der Zunge, was mit Marc werden sollte, mit seiner Beisetzung. Darum mussten wir uns doch jetzt kümmern, ich hatte keine Vorstellung davon, wie lange so etwas warten konnte.
    Es war kaum anzunehmen, dass die beiden jemals darüber gesprochen hatten. Also, was der andere wünschen würde in so einer Situation. Wer tat das schon, in unserem Alter. Dennoch, Hedda hatte doch
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