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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe
Autoren: Kerstin Michelsen
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dass ich ihm am liebsten in die Arme gesunken wäre, so wie früher. Ich riss mich zusammen.
    „Hör zu, Daniel, ich muss zu Hedda. Hilfst du mir?“
    Der unauffällige Blick, den er auf seine Armbanduhr warf, entging mir nicht. Ein harter Klumpen formte sich in meinem Bauch.
    „Vergiss es, ich schaffe das auch ohne dich“.
    Ich biss die Zähne zusammen und setzte mich auf, diesmal langsamer. Jede Bewegung war anstrengend. Wie in Zeitlupe schob ich mich an die Bettkante, da spürte ich Daniels Hand an meinem Arm.
    „Natürlich helfe ich dir, komm, aber schön langsam, ja?“
    „Aber dein Flug“, protestierte ich matt.
    Ich wollte ja gar nicht, dass er ging, ich wollte, dass er hier blieb und mich zu meiner Schwester führte. Am besten blieb er für immer, aber natürlich wusste ich, dass das nicht geschehen würde. Niemals wieder. Vor Erschöpfung und Frustration traten mir Tränen in die Augen. Meine nackten Füße berührten den kalten Linoleumboden.
    „Mach dir jetzt keine Gedanken. Du bleibst sitzen und ich besorge dir einen fahrbaren Untersatz. Ich kann dir aber nicht versprechen, dass es ein Porsche wird!“
    Wir grinsten uns an. Im vorletzten Jahr hatte Daniel mich zum Geburtstag mit einem Porsche überrascht, natürlich nicht geschenkt. Er verdiente zwar gut, aber so gut nun auch wieder nicht. Nein, es war nur für ein Wochenende gewesen. Wir flitzten mit dem Sportwagen zu einem sehr edlen und romantischen Gasthof irgendwo tief in der Eifel. Die weite Fahrt hätten wir uns allerdings schenken können, denn wir kamen sowieso kaum aus dem Bett. Und wenn, dann nur, um uns in dem überdimensionalen Whirlpool zu wälzen. Da dachte ich noch, dass Daniel der Mann war, mit dem ich alt werden würde.
    Als Daniel den Raum verließ, um für seine leicht beschädigte Exfrau einen Rollstuhl zu organisieren, hätte ich weinen können vor Wut. Dieser Idiot, wie hatte er mir das nur antun können, wie hatte er das, was wir einmal hatten, so leichtfertig zerstören können?
    Meine trübsinnigen Betrachtungen wurden vom Eintreten des Pflegers unterbrochen. Er schob einen faltbaren Rollstuhl vor sich her. Ich versuchte, an ihm vorbei zu sehen. Irgendwo musste Daniel doch sein, doch da war niemand. Ich biss erneut die Zähne zusammen. Dieser verdammte Feigling. Wahrscheinlich kam in einer Stunde oder einem Tag eine SMS mit einer Erklärung, warum er so überstürzt aufgebrochen war. Irgendetwas Läppisches würde ihm schon einfallen. Dass Daniel gut lügen konnte, das wusste ich ja inzwischen. Nun gut, darüber konnte ich mich auch später noch aufregen. Jetzt ging es nicht um mich, sondern um Hedda.
    „Hallo Frau Morgenroth, ich bin Pfleger Andreas. Ich hörte, Sie wollen einen kleinen Ausflug machen?“
    Ich nickte stumm.
    „Kommen Sie, aber ich sage Ihnen gleich, viel Zeit habe ich nicht! Ich habe noch Pause, sonst dürfte ich das sowieso nicht, ich meine, einfach die Station verlassen. Wir beeilen uns besser, bevor die Oberschwester uns sieht!“
    Es war wieder einmal typisch. Meine eigene Familie – Daniel hatte ja zumindest bis vor kurzem noch dazu gehört – löste sich in Luft auf und ein Fremder half mir. „Danke“, japste ich, als ich endlich im Rollstuhl saß. Im Grunde hatte ich ja noch gar nichts getan und war trotzdem schon aus der Puste. Es war ein komisches Gefühl, auf den Flur hinaus geschoben zu werden. Kindlich und hilflos irgendwie. Im Sitzen war ich natürlich auch viel kleiner als sonst, wenn ich mich fortbewegte. Jeder, dem wir begegneten, war größer als ich. Es rauschte in meinen Ohren, aber ich nahm nicht an, dass es der Fahrtwind war. So schnell waren wir nun auch wieder nicht. Vielleicht hatte mein Gehör bei dem Unfall doch etwas abbekommen und die Ärzte hatten mich nicht gründlich genug untersucht.
    Andreas schob mich durch eine Doppeltür hinaus in das Treppenhaus. Vor den Aufzugtüren blieben wir stehen. Der Pfleger beugte sich vor und drückte auf den Pfeil nach oben.
    „Wir müssen in den vierten Stock.“
    Die Lifttüren öffneten sich, einige Leute traten heraus, Besucher und Krankenhauspersonal, aber alle blickten über mich hinweg. Kein Augenkontakt, ich war zu klein. Es fühlte sich an, als wäre ich gar nicht da, jedenfalls nicht auf Augenhöhe. Jetzt war ich nicht nur hilflos und schwach, sondern auch noch unsichtbar. Eine kurze, für mich zum Glück vorübergehende Erfahrung, aber dennoch lehrreich. Im Rollstuhl sitzen veränderte nicht nur denjenigen, der darin saß,
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