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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe
Autoren: Kerstin Michelsen
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mich, sondern um jemand anders. Vielleicht hatte ich mir bei dem Unfall doch einen Nerv eingeklemmt. Vielleicht war es auch der Schock, wer wusste denn, was ich vielleicht doch während des Unfalls mitbekommen hatte und nun verdrängte. Es war ja immerhin möglich, dann musste ich eben einen Psychologen aufsuchen. Ich nahm mir erneut vor, die Ärztin um weitere Untersuchungen zu bitten. Irgendetwas stimmte mit mir nicht.
    All das ging mir durch den Kopf, während ich am Bett meiner Schwester saß und ich mich seltsam entrückt fühlte. Mein Körper kam mir vor wie eine Hülle, in die ich hinein und auch wieder heraus schlüpfen konnte.
    „Nora, was ist denn?“
    Plötzlich war Hedda wieder ganz nah. Ich schüttelte mich und streckte die Arme aus. Jetzt gehörten sie wieder mir. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, der Pfleger war zurück.
    „Frau Morgenroth, es tut mir leid, aber die Pause ist gleich zu Ende, wir müssen wieder hinunter“
    Er reichte Hedda die Hand.
    „Mein Beileid. Es tut mir leid, was passiert ist.“
    Dann löste er die Bremsen.
    „ Ich muss Ihre Schwester leider wieder entführen. Wir müssen zurück auf die Station.“
    Hedda brachte ein schwaches Lächeln zustande.
    „Vielen Dank, dass Sie sie hergebracht haben. Ich bin jetzt auch müde.“
    An der Tür drehte ich mich noch einmal um.
    „Ich komme morgen wieder!“
    Obwohl ich keinen einzigen Schritt selbst getan hatte, war ich erschöpft und sehnte mich danach, in mein Bett kriechen zu dürfen. Kaum hatte Andreas mich in das Zimmer zurückgebracht und unter die Decke verfrachtet, schlief ich ein.

 
ZWEI
    „Mutter, so geht das nicht. Wer soll das denn bitte schön sonst machen, wenn nicht du?“
    Nach meinem kleinen Ausflug hatte ich etwa eine Stunde geschlafen und dann ferngesehen, bis das Mittagessen kam. Kaum hatte ich den letzten Löffel der etwas faden Gemüsesuppe verspeist, war die Tür aufgegangen. Mutter absolvierte den täglichen Besuch. Dass ihre Anwesenheit nicht besonders hilfreich war, stand auf einem anderen Blatt. Sie hatte es niemals verstanden, Nähe zu Hedda und mir herzustellen. Vielleicht war es ungerecht, sie so zu sehen. Mutter liebte uns wohl, auf ihre Art. Sie konnte es nur nicht so zeigen, wie wir es als Kinder gebraucht hätten. Jetzt brauchten wir ihre Mutterliebe nicht mehr. Trotzdem musste sie jetzt verflucht noch einmal das tun, was nötig war. Ich war so sauer!
    Nachdem ich ihr ins Gesicht gesagt hatte, dass ich inzwischen von Marcs Tod wusste, konnte Mutter sich endlich als trauernde Schwiegermutter inszenieren.
    „Nora, ich konnte es dir einfach nicht sagen. Es war unmöglich! Und was du da jetzt von mir verlangst, also nein …“.
    Ich setzte mich im Bett auf und funkelte sie an.
    „Du weißt genau, dass Marc außer uns keine Familie mehr hat. Nur den einen Cousin, aber der lebt doch in Singapur oder wo. Ich weiß nicht einmal den Namen und ich glaube nicht, dass der überhaupt kommen wird. Ich glaube, die beiden haben sich zuletzt als Kinder gesehen. Hedda kennt ihn jedenfalls nicht, da bin ich mir sicher. Wie auch immer, der Cousin wird vom anderen Ende der Welt kaum eine Trauerfeier arrangieren können. Mutter, der Mann deiner Tochter ist tot, sie liegt schwer verletzt im Krankenhaus und ich komme auch erst in ein paar Tagen raus. Wer sonst also soll zum Bestatter gehen, wenn nicht du?“
    „Ich kann das nicht, ich will das nicht!“, zeterte Mutter und sprang von ihrem Stuhl auf. Sie tigerte unruhig von einer Seite des Raumes zur anderen. Plötzlich blieb sie stehen.
    „Ist Daniel übrigens hier gewesen? Er war ja so erschüttert, als ich ihm erzählte, was passiert ist!“
    Ich schnaubte höhnisch.
    „Der ist hier gewesen, allerdings. Herzlichen Dank auch, dass du mich daran erinnerst. Also wirklich, dass du meinen Exmann bemüht hast, um mir die Nachricht zu überbringen …“
    „Siehst du, genau das meine ich! Wenn du immer so ein Gesicht ziehst, musst du dich auch nicht wundern, wenn so ein Mann sich eine andere Frau sucht, eine, die nicht immer schlecht gelaunt ist und herum schreit und …“
    „Mutter!“
    Jetzt schrie ich wirklich, obwohl ich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Es war einfach nicht zu fassen. Ihre beiden Töchter lagen im Krankenhaus, wir mussten Marcs Trauerfeier organisieren und Mutter fiel nichts Besseres ein , als ihre uralten Tiraden hervorzukramen. Ich konnte es einfach nicht mehr hören.
    Die Tür wurde aufgerissen und die Oberschwester
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