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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe
Autoren: Kerstin Michelsen
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Hausmeister sich schon auf dem Rückweg in die Wohnung, entfernte in Windeseile die kleine, kaum sichtbare Webkamera samt Kabel, die vom Heizkörper aus auf das Bett gerichtet gewesen war. Dann hatte er die Wohnung verlassen, sich auf dem zweiten Treppenabsatz atemlos an die Wand gedrückt, als er den Paketboten hörte, der, laut und falsch vor sich hin pfeifend, ein Stockwerk tiefer die Treppe hinunter stieg. Es ging jetzt nur noch darum, ungesehen die eigene Wohnung zu erreichen, ehe die Leiche gefunden wurde. Doch dann kam alles anders als erwartet. Der Paketwagen war einfach davon gefahren. Es hatte keinen entsetzten Aufschrei gegeben, keinen Aufruhr vor dem Haus. Siegfried Anders hatte sich nicht beherrschen können und war vor die Tür getreten. Für den Hausmeister war das völlig unbegreiflich: Die Leiche war verschwunden. Er war in seinen Wagen gesprungen und damit kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Irgendwo hatte er an einer Telefonzelle angehalten und diese gewisse Handynummer angerufen, die nur für den absoluten Notfall vorgesehen war. Das hatte der Stadtrat ihm damals eingeschärft, doch nun war ein Notfall eingetreten. Anders hatte dem Mann am anderen Ende der Leitung das Unbegreifliche geschildert. Yasmine Abassian konnte den Sturz unmöglich lebend überstanden haben, was also war geschehen? Wo war sie? Wo war ihre Leiche?
    Doch vor dem Begreifen hatte die Notwendigkeit gestanden, von der Bildfläche zu verschwinden oder eher gesagt, nachweislich niemals dort gewesen zu sein. Die unbekannte Stimme hatte Siegfried Anders Anweisungen erteilt, denen er ohne zu zögern folgte. Keine halbe Stunde später saß der Hausmeister im FKK-Clu b Oas e mit zwei sehr vollbusigen, aber nicht mehr ganz jungen Damen im Whirlpool und ließ sich viel zu süßen Schaumwein einschenken. Später versuchte er, etwas erfolglos, sich an dem Liebesspiel mehrerer Paare zu beteiligen. Er war überhaupt bald zu betrunken, um noch viel zu tun. Auf jeden Fall gab es genügend Zeugen, die sich, wenn auch peinlich berührt über die spätere Befragung durch die Polizei, deutlich an den Mann erinnern konnten, der zur Feier seines Strohwitwerdaseins eine Flasche nach der anderen spendiert hatte. So konnte Siegfried Anders, genauso wie die anderen Bewohner des Hauses, ein einwandfreies Alibi für den Zeitpunkt vorweisen, als Yasmine in die Tiefe gestürzt war. Der Hausmeister schaffte es sogar noch, am nächsten Tag den Blumenkübel zu beseitigen, gegen den Yasmine gestürzt war, bevor die Polizei überhaupt herausgefunden hatte, um wen es sich bei der vollkommen entstellten Leiche auf der Bundesstraße handelte. Ehe also das ganze Kommando samt Spurensicherung anrücken konnte, waren die wenigen Spuren beseitigt worden. Die wochenlangen Ermittlungen, die dann folgten, ergaben nichts von Bedeutung. Am Ende waren alle zufrieden gewesen, so konnte man sagen – mit Ausnahme von Kriminalhauptkommissar Oliver Lüdke und natürlich den Eltern der Toten.
    Vermutlich wäre niemals herausgekommen, was wirklich geschehen war – wenn nicht meine Gabe und Yasmines ruheloser Geist aufeinander getroffen wären. In Ermangelung eines ander en Wortes in unserer Sprache muss ich ihre Erscheinung einfac h Geis t nennen, auch wenn das, was ich durch sie hörte und fühlte, nichts mit dem gemein hatte, was man landläufig unter Geist versteht. Yasmine begegnete mir nicht als diffus flatternde weiße Gestalt. Sie sprach auch nicht zu mir, jedenfalls nicht in Worten, die einer irdischen Sprache glichen. Dass ich sie weniger deutlich verstand als meine Großmutter oder meinen Vater, führe ich nicht darauf zurück, dass Yasmine aus einem anderen Land stammte. Schließlich sprach sie, nach allem was ich weiß, fließend Deutsch. Nein, ich erkläre es mir so, dass wir uns im wirklichen Leben nicht gekannt hatten. Wir hatten keine Zeit miteinander geteilt, nur einen Raum. Und dennoch hatte ich sie verstanden, waren ihre Stimme und das, was sie nicht ruhen ließ, in Bildern und Gefühlen zu mir gedrungen. Sie hatte mich über viele Wochen begleitet. Manchmal waren wir so sehr miteinander verschmolzen, dass sie ich gewesen war und ich war sie.
    Nachdem der Fall nun aufgeklärt war, musste ich lernen, Yasmine Abassian loszulassen. Um mich selbst zu trösten , sagte ich mir, dass sie jetzt endlich gehen konnte – wohin auch immer. Vielleicht konnte sie in der Heimat ihrer Eltern Frieden finden, in dem kleinen Dorf nahe der Hauptstadt Jerewan. Dort, wo ihr
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