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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe
Autoren: Kerstin Michelsen
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gewesen, Vaters Mutter, die nach seinem frühen Tod ihre ganze Liebe verschwenderisch auf Hedda und mich verteilt hatte.
    Als ich so lag und mich füttern ließ, spürte ich, wie die Welle auf mich zurollte. Erst lauwarm, dann immer wärmer. Erst dachte ich, dass es die heiße Suppe war. Doch die Hitze kam nicht von innen, sie hüllte mich ein wie eine zweite Haut. Schließlich glühte und vibrierte mein Körper bis in die Fingerspitzen und die Zehen.
    Nora .
    Das Rauschen schob sich zwischen mich und – die Welt. Es fühlte sich an, als bestünde ich nur noch aus Hören und Fühlen und dem Rauschen. Alles löste sich auf. Ich schloss den Mund.
    „Keinen Hunger mehr?“
    Ich schüttelte den Kopf, nur ganz leicht, bei der leisesten Bewegung wurde mir schwindelig. Das Bett schien nicht mehr fest auf dem Boden zu stehen. Wie auf hoher See.
    „Ist gut , Frau Morgenroth. Ich schaue später noch nach Ihnen!“
    Dann war ich allein. 
    Das heißt, der Raum war leer, bis auf mich, aber es fühlte sich nicht so an. Rechter Hand, zur Tür hin, stand ein nicht genutztes Bett. Mutter hatte für ein Einzelzimmer gesorgt, immerhin. Warum hatte ich trotzdem das Gefühl, nicht allein zu sein? Mein ganzer Körper glühte und vibrierte. Ich starrte an die gegenüberliegende Wand. Dort hing ein nichtssagender Kunstdruck, irgendetwas mit Gräsern und einem bunten Phantasievogel. Meine Augen schmerzten. Es war, als hefteten meine Sehnerven sich direkt an das Bild. Das Gras verschwamm, wurde heller und schließlich neblig weiß. Der Vogel veränderte seine Form, löste sich schließlich auf. Das Bunt zerfloss zu einem einzigen großen Klecks. Rot. Blut.
    Nora … m ein Kind … Nora
    Ich schrie. Die Tür wurde aufgerissen, zwei Personen stürzten herein.
    „Frau Morgenroth, legen Sie sich bitte wieder hin, Sie fallen mir noch aus dem Bett! Andreas, klappen Sie die Gitter hoch!“
    Ich spürte auf jeder Schulter eine Hand und wurde sanft zurück in die Kissen gedrückt. Durch das Rauschen hindurch hatte ich die Stimme meiner Großmutter erkannt, so klar und deutlich, als stünde sie neben mir. Nur war das leider unmöglich, weil Omi schon seit vielen Jahren tot war. Oh Gott, dachte ich, ich kann nicht aufhören zu zittern, was ist denn nur mit mir? Vielleicht hatte ich Fieber. Warum merkten die nicht, wie schlecht es mir ging?
    „Ist Ihnen kalt?“
    Ich nickte. Sprechen war unmöglich. Ich traute meiner eigenen Stimme nicht. Wenig später war ich mit zwei zusätzlichen Decken versorgt, die Ärztin war wieder verschwunden. Dankbar hatte ich mir noch ein Schlafmittel einflößen lassen. Was auch immer mit mir los, war, ich wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen und fürs Erste einfach nur schlafen.
    In dieser Nacht träumte ich ein weiteres Mal von Marc. Er stand auf einer weißen Anhöhe, vielleicht war sie von Schnee bedeckt. Die Gestalt war so weit entfernt, dass ich kein Gesicht erkennen konnte. So sehr ich mich auch bemühte, war dort, wo der Kopf saß, nur ein roter Fleck auszumachen. Und dennoch wusste ich, dass er es war.
    Hedda .
    Das war alles , doch es klang zärtlich und eindringlich zugleich. Es war nur das Rauschen, trotzdem war es unverkennbar der Name meiner Schwester, den er rief, immer wieder. Aber warum, was hatte Marc in meinen Träumen verloren? Ich kannte ihn seit vielen Jahren, aber genau genommen spielte er in meinem Leben keine Rolle. Er war einfach der Mann meiner Schwester, mit dem ich ansonsten nicht viel anfangen konnte. Ich traf ihn bei Familienfeiern und Geburtstagen, oder wenn ich Hedda abholte, weil wir ins Kino gehen wollten. Obwohl wir uns seit fünfzehn Jahren regelmäßig über den Weg liefen, kannte ich Marc kaum. Was ich über ihn wusste, stammte fast ausnahmslos aus zweiter Hand. Er war für mich einer dieser Menschen, die einem immer fremd und konturlos blieben.
    Warum also tauchte mein Schwager zweimal hintereinander in meinen Träumen auf? Daran konnten nur die Medikamente schuld sein oder der Schock des Unfalls. Das zumindest dachte ich, als ich, nachdem ich erwacht war, durch die halb geöffnete Jalousie in die Morgendämmerung hinaus blickte. Ich beschloss, dass ich Hedda heute einen Besuch abstatten würde. Irgendwie musste es ja wohl möglich sein, von einer Station zur nächsten zu gelangen. Notfalls musste Mutter mich im Rollstuhl hinüber schieben. Oder Marc. Die Ärztin hatte ihn nicht erwähnt, also war mein Schwager vermutlich unversehrt geblieben.
    Und dann wollte ich
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