Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe
Autoren: Kerstin Michelsen
Vom Netzwerk:
jemand kommen? Sie ist wach, meine Tochter ist wach!“
    Tochter. Schwester. Hedda. Schnee. Auto. Ich versuchte, die Teile zusammenzusetzen.
    „Mutter“, fragte ich leise, „wo ist Hedda? Was ist passiert?“
    Doch Mutter blieb an der Tür stehen und trippelte von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht hatte sie mich wirklich nicht gehört, aber anzunehmen war es nicht. Ich schloss entnervt die Augen. Das sah Mutter wieder einmal ähnlich. Jede andere Mutter hätte ihrem Kind erst einmal über die Hand oder Wange gestrichen und etwas zu trinken gereicht. Auch wenn das Kind schon achtunddreißig Jahre alt war. Meine rannte zur Tür und wartete darauf, dass ihr jemand anderes die Arbeit abnahm. Nicht, dass ich besonderen Wert darauf gelegt hätte, von meiner Mutter gestreichelt zu werden. Aber der Durst war quälend. Zum Glück kam bereits jemand angelaufen. Gummisohlen kamen quietschend näher. So liefen Krankenschwestern oder Ärzte, ein beruhigendes Geräusch.
    „Frau Morgenroth, sind Sie wach?“
    Ich öffnete die Augen und erblickte abermals die grauhaarige Ärztin. Sie lächelte.
    „Ich bin Dr. Weber. Wie geht es Ihnen, Frau Morgenroth ?“
    „Durst“, sagte ich und schielte zu dem Becher hinüber. Sie stützte erneut meinen Kopf und ließ mich trinken. Warum konnte Mutter so etwas Einfaches nicht tun?
    Nachdem ich einige Schlucke zu mir nehmen durfte, fühlte ich mich besser, viel besser.
    „Wo bin ich und was ist passiert?“
    „Sie sind im Maria-Hilf-Krankenhaus in Erzfeld. Sie hatten einen Autounfall. Keine Sorge, Sie sind nicht schwer verletzt. Einige Prellungen, aber das wird schon wieder.“
    Der Gänsebraten. Die vielen Cocktails. Dann der Schnee. Kopfüber. Hedda. So viele Puzzleteile, doch etwas fehlte, ich kam nur nicht darauf, was es war. Das musste ich noch herausfinden.
    „Wo ist meine Schwester?“
    Mutter rang die Hände und blickte zur Decke. Dabei hielt sie sich auffällig im Hintergrund. Wie ich es mir gedacht hatte: Jemand sollte die Kastanien für sie aus dem Feuer holen. Immer, wenn etwas Unangenehmes geschah… Ein eisiger Schrecken durchfuhr mich. Ich versuchte mich aufzusetzen, aber es ging nicht. Meine Glieder waren wie aus Blei. Unter meiner Schädeldecke begann es schmerzhaft zu pochen. Ich keuchte laut auf.
    „Hedda ? Wo ist Hedda?“
    „Bitte beruhigen Sie sich, Frau Morgenroth. Ihrer Schwester geht es gut, jedenfalls den Umständen entsprechend. Sie hat einen Rippenbruch und einen Beinbruch erlitten. Zum Glück sind keine inneren Organe beschädigt worden, aber das Bein mussten wir an zwei Stellen zusammenfügen. Wir haben sie operiert, daher liegt sie noch zur Überwachung auf einer anderen Station. Aber sie wird wieder gesund.“
    Die Ärztin berührte ganz leicht meine Hand, während sie sprach. Es fühlte sich angenehm an und beruhigend. Was mich dagegen beunruhigte, war der schnelle Seitenblick, den sie meiner Mutter zuwarf. Da war noch etwas, das spürte ich. Mir war klar, dass ich im Grunde wissen müsste, worum es ging, es war schon ganz nah. Doch ich konnte den Gedanken nicht festhalten, er schwirrte wieder davon.
    Mutter sah zur Seite, als ginge sie das alles hier nichts an. Dann studierte sie ihre rechte Hand, die noch immer den Ehering unseres Vaters trug, so intensiv, als sähe sie beides zum ersten Mal. Alles, nur um mich nicht ansehen zu müssen. Ihre Tochter.
    … sag ihr  … dass ich sie liebe … verzeihe … meine Schuld, alles meine … Schulden …
    Es kam wie ein Hauch, wie das Rauschen von Buchenlaub in leichtem Wind, der langsam verebbte. Es waren keine Worte im eigentlichen Sinne, mehr ein Flattern, Surren und Vibrieren, und dennoch war es genau das, was ich verstand. Mir wurde schwindelig. Gut, dass ich bereits lag, sonst wäre ich vermutlich umgefallen.
    „Mir ist übel“, krächzte ich und erbrach mich über die Bettkante auf die Schuhe von Frau Dr. Weber.
    Viel später, als Mutter längst gegangen war, um Hedda auf Station C zu besuchen, durfte ich etwas Brühe zu mir nehmen. Ein korpulenter, sehr netter Pfleger nahm sich die Zeit, mir geduldig Löffel um Löffel einzuflößen. Vermutlich hätte ich auch allein essen können, es war trotzdem ein angenehmes Gefühl. Wie früher, wenn ich krank gewesen war und meine Großmutter kommen musste, um aufzupassen und mich zu pflegen. Mutter war immer arbeiten. Termine, Termine, Termine. Sie hatte so gar nichts Mütterliches an sich, hatte sie niemals gehabt. Dafür war unsere Omi zuständig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher