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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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die Beine ausstreckte, konnte er seine Schuhe fast daranhalten –, und vielleicht hatten die Ohrringe seiner Mutter genau dieselbe Farbe, aber sicher war er nicht, denn ihre krausen blonden Haare flogen nach allen Seiten, während sie seinem Vater das Paket mit den Pelmeni entriss.
    Nino wandte sich dem Fenster zu. Alles wischte in großer Geschwindigkeit an der Scheibe vorbei, sodass er den Kopf schräg halten und nach vorne spähen musste, um überhaupt etwas zu erkennen.
    Draußen gab es noch viel mehr farbliche Zusammenhänge. Ja, wenn er sich nur auf die Farben konzentrieren und übersehen könnte, dass die Kleckse zu Menschen, Geschäften und Autos gehörten, dann würde er gewiss ein Muster erkennen, das irgendetwas Sinnvolles ergab. Ein Zeichen, ein Bild hinter Werbeplakaten und Jacken und Müll und in Schaufenstern ausgestellten Kleidern, Staubsaugern und Fernsehgeräten. Alles hing zusammen, alles wurde erst im Zusammenhang bedeutsam, auch wenn er nicht hätte sagen können, warum. Vielleicht, weil ihm die Worte für eine so große Erkenntnis fehlten. Ihm fehlten viele Worte. Wenn seine Eltern nicht gerade stritten, sagten sie ihm die Namen der Dinge. Alles hatte einen Namen. Hubschrauber und Schraubenzieher und Ziehharmonika und Monika-von-Nebenan und, und, und. Sogar Sachen, die eigentlich nur Teil anderer Sachen waren, so wie … wie … Fensterscheibe. Er betrachtete seine Hände und fragte sich, warum Finger nicht Handstückchen hießen, denn sie gehörten doch eigentlich zur Hand. Aber dann müssten auch seine Hände nur Armstücke heißen und seine Arme Ninostücke. Manche Sachen hatten gleich mehrere Namen. So wie Auto auch Schlitten und Schrottkiste hieß. Und dann gab es ja noch verschiedene Sprachen – Deutsch, Russisch und Italienisch, gleich drei! –, und in jeder gab es wieder mehrere verschiedene Begriffe. Das alles war sehr kompliziert, das mit den Namen, und er stellte sich mit Ehrfurcht vor, wie er eines Tages alle im Kopf haben würde, so wie seine Eltern.
    Seufzend ließ er die Hände sinken. Menschen bevölkerten den Bürgersteig, und noch mehr mussten in den Häusern sein: eine Fensterreihe über der anderen, ein Wohnblock neben dem nächsten, so unermesslich viele Wohnungen mit Leben darin, dass einem ganz schwindelig werden konnte. In einer dieser Wohnungen war seine Halbschwester Katjuscha, die bunte, glitzernde, klimpernde Kleider trug und ihm zu seinem Geburtstag ein Auto geschenkt hatte, das unter Schränke raste, wenn man es aufzog. Was seine Eltern über sie sagten, dass sie Vegetarierin war und so weiter, klang beunruhigend, aber hatte doch nichts mit der echten Katjuscha zu tun, die mit ihm Verstecken spielte. Auch das war so eine Sache mit Namen. Sie schienen manchmal wichtiger zu sein als das, was sie eigentlich beschrieben.
    Nino glaubte einen Schwarm Fische zu sehen, der aus einem Haus an der Kreuzung weiter vorne ausbrach. Doch es waren keine Fische. Es war ein Regen blitzender Scherben. Und dann flog etwas Größeres hinterher, ein –
    Seine Mutter schrie. Sein Vater riss das Lenkrad herum, Arme und Beine schlugen mit bösartigem Krachen auf die Heckscheibe. Ein blutiges Gesicht zertrümmerte die Scheibe. Seine Eltern zersprangen in Glassplitter und Farbspritzer und reifenquietschenden, zähnefletschenden Schmerz.
     
    Stille, so tief wie ein Sahnekuchen mit vielen, vielen Schichten. Wenn man genau hineinlauschte in diese Stille, erkannte man, dass sie aus Abermillionen feiner Stimmen bestand, so wie das Nichts genauso gut voller Schneeflocken sein konnte. Stille und Lärm, das Nichts und das Alles waren im Grunde nicht auseinanderzuhalten.
    Er blickte auf einen Fluss, hinter dem nichts war. Auch davor war nichts Wahrnehmbares, nur er, und er nahm sich eigentlich nicht wahr.
    Der Fluss hatte gar kein richtiges Aussehen, und doch wusste er, dass es ein Fluss war, so wie Erwachsene in den Buchstaben eines Buches Dinge erkannten, die es gar nicht gab.
    Seine Eltern gingen über das Wasser und wurden immer durchsichtiger, bis ihre Stimmen in der Stille versanken und das Nichts sie aufgenommen hatte. Er wollte ihnen hinterher, aber er konnte den Fluss nicht betreten. Andere Leute waren da, unzählige Leute, und alle schritten über die stillen Fluten. Seine Eltern waren längst verschwunden, doch er sah ihre Gesichter auf der Oberfläche des Flusses davonfließen, immer wieder, so flüchtig und endlos, wie die Häuser und Passanten am Autofenster vorbeigeströmt
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