Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
und blieb einen Moment länger als nötig vor ihm stehen.
Dreiundvierzig. Mit dreiundvierzig multiple Sklerose. In der Nacht heimlich weinend, wenn die Kinder es nicht mitbekommen.
Als er seinem Blick keine Worte folgen ließ, verzog sie sich mit einem «Byeee» wieder in die grün verträumte Dunkelheit.
    Eine Minute verstrich. Er lehnte sich an ein Metallfass und wartete, dass der Eingang Philip ausspuckte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Schwedin zu ihm herüberspähte, aber er ignorierte sie lieber. Dreiundvierzig, sie hatte noch viel Zeit und würde hundert andere Männer so ansehen wie ihn, die ihr Interesse auch erwiderten. Das Handy begann in seiner Hand zu vibrieren.
    «Philip?»
    Die Musik klang jetzt wie durch Butter gedämpft, Philip musste in einem engen Raum sein, vermutlich auf der Toilette. «Nino, kann ’d mich hörn?»
    «Ja!»
    «Sag anner Tür, du bisn Freun’ von Miösdi!»
    «Wem?» Nino musste lachen. «Mösi?»
    «Mesösamdi!»
    «Buchstabier’s mir.»
    «M-I-S-I-Ö-S-A-M-D-I!»
    «Monsieur Samedi? Wer ist das?»
    «Komm rein! Treppe hoch zu Bar!»
    «Bis gleich.» Nino steckte das Handy ein und ging an der Schlange vorbei. Glasscherben knirschten unter seinen Schuhen. Hungrige Gesichter blickten ihm nach, hungrig auf etwas Verbotenes, etwas Echtes. Alle suchten sie dasselbe, nur dass er besser als die anderen wusste, was das war. Zwei Türsteher bewachten das grüne Maul, ein muskelbepackter Glatzkopf und ein Kerl mit Hornbrille, nacktem Oberkörper und einer Bulldogge an der Leine. Der Glatzkopf bedeutete Nino, stehenzubleiben.
    «Nur Freunde von Freunden.»
    «Ich bin ein Freund von Monsieur Samedi», rief er gegen den herausschwemmenden Lärm.
    Nino bemerkte, dass die Augen hinter den Brillengläsern, die ihn musterten, fast nur aus Pupillen bestanden.
    «Wie heißt du denn, Freund?»
    «Philip», log er, ohne genau zu wissen, warum.
    «Bist du denn schon achtzehn?», fragte die Hornbrille neckend, während der Glatzkopf ihn bereits an der Schlange vorbei nach drinnen winkte. Die Frage nach seinem Alter versetzte Nino einen Stich. Er war fast vierundzwanzig, wurde aber immer noch an Clubtüren und Kinokassen nach seinem Ausweis gefragt. Den hätte er hier natürlich nicht zeigen können, immerhin lautete sein Vorname darauf nicht Philip. Andererseits hätte es ihn schwer verwundert, wenn die Türsteher daran interessiert gewesen wären, ob die Gäste volljährig waren. Oder überhaupt Papiere besaßen.
    Die Nachdrängenden schoben ihn tiefer ins grüne Licht. Es gab keine Kasse, nur eine gepiercte Frau mit einer Kiste zwischen den Beinen, auf der mit Filzstift geschrieben stand:
Feier ohne Ende – Spende!
    Er warf ein zusammengeknülltes Kaugummipapier in den Schlitz und gab der Frau eine Zigarette. Ihr Lächeln begleitete ihn durch den Plastikvorhang ins Innere des Lärms.
    Für Millisekunden herrschte abgrundtiefe Finsternis. Dann blitzten Lichter auf: silbernes Weiß, Grün, Grün, Weiß. Finsternis, schwer wie die Paukenschläge aus den Boxen, zerrissen von giftigem Grün. Die Musik pumpte die Halle bis zum Bersten mit Körperhitze, Schweiß und Jubelschreien auf. Zwei DJ s standen auf einem Vorsprung über dem Meer wogender Köpfe und dirigierten den Schwarm. Betonerhöhungen dienten den Leuten als Podest, ein Greis mit Federboa und Vollbart pustete riesige Seifenblasen über die Menge. Wie war er überhaupt auf die Empore gekommen? Es gab keine sichtbare Leiter oder Treppe nach da oben. Die einzige Stahltreppe, die Nino entdeckte, führte auf einen Balkon, der rote Lichtschwaden ausdünstete. Er schob sich durch die zuckende Menge darauf zu und erklomm die Stufen, vorbei an noch mehr Leuten, die sich irgendetwas in die Ohren schrien. Jemand packte seine Schulter, er drehte sich um und sah unter den Herumstehenden Freddie, oder Teddy? Nino konnte sich nie an seinen Namen erinnern. Jedenfalls gehörte er zu den Gesichtern, die man an zwei von drei Abenden beim Weggehen wiedersah. Nino traf ihn bestimmt einmal im Monat, trotzdem hatten sie sich nie mehr zu sagen als: «Hallo, wie geht’s?» Was sicher auch daran lag, dass Eddie fast immer auf Ketamin oder Schlimmerem war und dann die lächelnde Wortkargheit eines Siddhartha besaß. Ob er daran sterben würde, dass er so achtlos mit seiner Gesundheit umging, wusste Nino nicht. Er sah es nicht bei jedem.
    Er schüttelte die schweißnasse Hand des Jungen und ging weiter. Die Treppe mündete auf einen von Stahlgeländern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher