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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ich sie halb in mich entleert habe, wird mir weiß und blau vor Augen. Das Feuer, die Toten und der Schrank verschwinden. Das Blut unter Noir wird zu Regenwasser, wir sind in einer tropfenden Ruine. Im letzten Moment erreicht Noir unwiderstehliche Realität, wird schwer und warm und beweglich, aber das alles ist nicht mehr greifbar für mich. Ich sinke über Noir zusammen.
     
    So sterbe ich also. Ich kenne das schon. Der Tod ist eine vergessene Heimat und fühlt sich vertraut an.
    Der Fluss, der die Geborenen von den Ungeborenen trennt und miteinander verbindet, fließt vor mir. Ich blicke in die Fluten des STYX , wo vieles, wo alles auf einmal passiert: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind dasselbe Gewässer eines klaren Rausches. Ich möchte so sehr wieder Teil von ihm sein – keine Sehnsucht hat mich je heftiger ergriffen. Ich lasse meine Blicke hineintauchen, und da sind sie, alle Dinge, die ich je gewusst, gefühlt und gelebt habe.
     
    Er blickte auf einen Fluss, hinter dem nichts war. Auch davor war nichts Wahrnehmbares, nur er, und er nahm sich eigentlich nicht wahr.
    Der Fluss hatte gar kein richtiges Aussehen, und doch wusste er, dass es ein Fluss war, so wie Erwachsene in den Buchstaben eines Buches Dinge erkannten, die es gar nicht gab.
    Seine Eltern gingen über das Wasser und wurden immer durchsichtiger, bis ihre Stimmen in der Stille versanken und das Nichts sie aufgenommen hatte. Er wollte ihnen hinterher, aber er konnte den Fluss nicht betreten. Andere Leute waren da, unzählige Leute, und alle schritten über die stillen Fluten. Seine Eltern waren längst verschwunden, doch er sah ihre Gesichter auf der Oberfläche des Flusses davonfließen, immer wieder, so flüchtig und endlos, wie die Häuser und Passanten am Autofenster vorbeigeströmt waren.
    Er merkte, dass er nicht der Einzige war, der am Ufer stand. Neben ihm war das blutige Gesicht, das die Heckscheibe zertrümmert hatte. Er sah die Augen wie durch ein Mikroskop vergrößert, die Lichtgebirge der Iris, die pulsierenden Pupillen mit ihrer weltalltiefen Finsternis, und eine sonderbare Erregung durchspülte ihn, ein Gefühl so heftiger Vertrautheit, dass ihn innerlich Tränen kitzelten.
    Die junge Frau, der die Augen gehörten, machte einen Schritt, um über den Fluss zu gehen. Lauter wichtige, drängende Worte wuchsen in ihm, er musste nur – musste sie aussprechen –
    «Bleib wach, Nino. Bleib
WACH !»
    Er schrie. «Julie! Ich kenne dich! Noir! Du heißt Julie!»
    Er spürte, wie ihre Blicke sich trafen und durchdrangen und fassten. Er streckte die Arme nach ihr aus, und sie – sie tat dasselbe, und ihre Hände fanden sich. Da war der Fluss nicht mehr alles, sondern alles andere. Eine taumelnde Schwerkraft brach über sie herein und zog sie durch die Stille, bis die Stimmen auseinanderfädelten, wieder zu Lärm wurden –
    Er wacht auf! Wir haben ihn! Wir haben ihn –
    Können Sie uns hören? Ihre Freundin hat einen Krankenwagen gerufen. Erinnern Sie sich … Ihre Freundin Julie … Verstehen Sie Französisch –
    Und im Lärm das Piepen seines Herzschlages, blendende Lichter, Menschen in grünen Anzügen, die sich über ihn beugten, seinen Körper an Schläuche anschlossen und am Leben hielten.

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Über Jenny-Mai Nuyen
    Jenny-Mai Nuyen wurde 1988 als Tochter deutsch-vietnamesischer Eltern in München geboren. Geschichten schreibt sie, seit sie fünf ist, mit zehn folgte das erste Drehbuch, mit dreizehn ihr erster Roman. Seit ihrem literarischen Debüt «Nijura – das Erbe der Elfenkrone» gilt sie als eine der größten Entdeckungen der letzten Jahre.
    Nach einem abgebrochenen Filmstudium an der New York University lebt die Autorin heute in Berlin und widmet sich ganz dem Schreiben.
     
    «Jenny-Mai Nuyen gehört in die oberste Riege deutscher Fantasy-Autoren.»
    Bild am Sonntag
     
    «Jenny-Mai Nuyen schreibt sehr sinnlich, eine ihrer Stärken liegt im Beschreiben des Atmosphärischen.»
    Tages-Anzeiger

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Über dieses Buch
    Nino Sorokin ist dabei, als der Unfall geschieht. Seine Eltern sterben, ihm bleibt eine besondere Gabe: Er sieht den Tod eines jeden Menschen voraus. Auch den eigenen. Von nun an ist er besessen von der Frage, wie man das Schicksal überlisten kann. Er weiß, er wird nur 24 Jahre alt – und sein Geburtstag rückt immer näher. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Ninos Suche führt ihn zu einem geheimen Zirkel von Mentoren, die Seelen sammeln. Und
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