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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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verstand ihn, obwohl ihm die Worte fremd waren. Er sprach von der Schönheit des Korans, von der Größe Gottes und vom Propheten, den jeder lieben müsse, der ihn kennenlerne.
    Im März, erzählte er, werde er heiraten. Wenn du in Algerien bist, komm in ein Dorf namens – du vergisst den Namen gleich wieder – und frag nach Yassers Hochzeit. Er heirate seine Verlobte nach fünf Jahren Verlöbnis. Unberührt.
    Unberührt, wiederholst du auf Französisch. Das ist schön.
    Der Fahrer hat feucht schimmernde Augen.
    Am Bahnhof wurde gestreikt. Der nächste Zug nach Paris würde frühestens in vier Stunden abfahren. Sie überlegten, wieder ein Taxi bis in die nächste Stadt zu nehmen, aber dann kauften sie am Bahnhof Sandwiches und warteten wie alle anderen Menschen. Sie saßen auf einer kleinen Bank und kauten. Der hallende Lärm des Bahnhofs, seine abertausend Stimmen, höhlten einem den Schädel aus wie ein scharfer Löffel.
    Schließlich kam ein Ersatzbus zu einem anderen Bahnhof, zwei Fahrtstunden entfernt. Weil der Bus bis auf den letzten Platz besetzt war, musste er sie auf seinen Schoß nehmen.
    Die Stadt zog vorüber im Licht der jungen Sonne, ein klarer, grobkörniger Septembertag. Ein Neubeginn, den niemand erbeten hatte, der einfach gekommen war mit der Unerbittlichkeit der Jahreszeiten. Heruntergekommene Gebäude schwebten durch das Busfenster. Türen an der Außenwand, die sich zur Tiefe öffneten und wahrscheinlich von innen zugemauert waren. Dächer mit Graffiti und einem riesigen weißen Blitz an der Wand. Auf der Titelseite der Zeitung, die der Mann neben ihnen las, stand, dass letzte Nacht über dem Atlantik eine Maschine mit zweihundert Menschen verschwunden sei. Wegen Blitzeinschlägen, hieß es.
    Nino dachte an letzte Nacht und an die Toten. Der Tod fühlte sich an diesem Vormittag so nah an; überall verschwanden Menschen, Dinge, Gefühle, Gedanken, um nie wiederzukehren. Jeder Moment starb, jede Sekunde, jeder Herzschlag. Was und wo das Leben war, die Fragen hatten sie bis hierher getrieben. Jetzt begriff er, dass das Leben nur die Wiederholung von Toden ist, eine endlose Aneinanderreihung vieler kleiner und großer Endgültigkeiten. Manchmal in rasender Geschwindigkeit, manchmal schleichend. Eins ist schmerzhaft wie das andere.
    Und in diesem Moment wirst du ICH , denn das ist die Gegenwart, und weiter ist nichts passiert; hier bin ICH und warte das Sterben im Rhythmus meines Atems ab.
    HIER BIN ICH .
    Ein Flugzeug im Himmel. Weg.
    Der Fluss weit unter uns. Verschwindet.
    NOCH BIN ICH HIER .
    Grasflächen unter der Autobahnbrücke – eine schöne, phantasievolle Brücke mit roten Stahlstreben und Toren, deren Beine wie Schlaghosen ausgestellt sind –, sie reißt zur Seite ab. Irgendwann wird sie zerfallen.
    UND ICH WERDE  –
    Noir wird unruhig auf meinem Schoß. Ich halte ihre Knie fest, damit sie nicht mit unserem Sitznachbarn in Berührung kommt. Sie ist vielleicht unsichtbar für alle anderen, aber ich fühle ihr Gewicht sehr real.
    Nach einer Stunde sind meine Beine eingeschlafen. Noir umschlingt meinen Hals, ihr Mund nah an meinem, damit sie meinen Atem spürt. Alle paar Sekunden versuche ich, mich auf meine Gefühle für sie zu konzentrieren, damit sie satt bleibt. Aber es ist nicht genug. Ich weiß das. Ich denke zu sehr an andere Dinge. Ich bin zu sehr ein anderer geworden. Mit den drei Schüssen aus Amokes Waffe, geführt von Noirs Hand, ist etwas in mir gerissen, und sie fühlt es, und ich fühle, dass sie leidet.
    Sobald wir ankommen, werde ich mein Bewusstsein mit STYX auffrischen müssen.
    Sie träumt. Ich bleibe dabei wach für sie. Ich bin ihr Wächter, während wir uns nach Paris durchschlagen – von Bahnhof zu Bahnhof, von einem Taxi ins nächste, immer eine andere anonyme Autobahn entlang.
    Sie träumt. Und ich begleite sie durch beide Welten, durch die scheinbare und durch die ewige der Vergangenheit:
    Sie hilft Jean bei seiner Flucht. Einen Monat lang sehen sie sich regelmäßig in der Klinik, bis die Besuche gar nicht mehr der totgesoffenen Frau gelten, die einmal ihre Mutter war, sondern dem geheimnisvollen Zigeuner. Seine Hände sehen aus, als hätten sie das ganze Leben harte Arbeit geleistet, dabei sind es die Hände eines Künstlers – eines Zauberkünstlers : Er kann selbstgebastelte Papierblumen verschwinden und hinter ihrer Kniekehle zum Vorschein kommen lassen, er dreht perfekte Zigaretten und zeichnet Porträts von einem schönen Mädchen, in dem sie
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