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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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sich selbst nie wiedererkennt, obwohl die Widmung an sie in allen fünf Sprachen, die er beherrscht, und in seinen zahlreichen Handschriften daruntersteht. Er sagt ihr nie, dass er sie liebt, aber sie weiß es, und es ängstigt sie nicht mehr, als dass es sie erregt. Seine Liebe ist ein fast väterliches Empfinden mit nur vagen romantischen Färbungen, obwohl er von den Jahren her kaum älter ist als sie.
    Die Flucht ist einfach. Er darf sie auf einen Spaziergang durch den Park der Klinik begleiten, und dann fahren sie einfach mit ihrem Auto weg. Das Haus ihres Vaters ist so groß und so unbewohnt, dass lange Zeit niemand den Einzug des Mannes bemerkt.
    In dieser Zeit ist er ihr Geheimnis auf dem Speicher. Sie bringt ihm Essen und Bücher, und sie sehen sich im Wohnzimmer Filme an, wenn der Vater verreist ist. Weil sie nur wenige Freunde an der Universität hat und die Universität weit entfernt liegt, muss sie ihn niemandem vorstellen. Wenn sie spazieren gehen, dann nur verlassene Wege entlang eines Waldsees, wo keine Leute sind, die sie kennen. Sie lässt flache Steine über das Wasser springen, sodass es aussieht, als wäre der See ein vibrierender Spiegel. Er findet im Vorbeigehen vierblättrige Kleeblätter, die sie mit nach Hause nimmt und in ihrem Schrank der Schätze aufbewahrt.
    Sie zeigt ihm alles aus dem Schrank der Schätze und erzählt die Geschichten, die die Dinge so wertvoll machen.
    Auch er teilt seinen kostbarsten Besitz mit ihr: seine Geheimnisse. Er zeigt ihr das Spiel mit Glas und Brett. Er öffnet ihr die Pforte zwischen Diesseits und Jenseits. Gemeinsam erblicken sie ihre Zukunft. Ihren Tod.
    Und als das Wissen sie erdrückt, bietet er ihr seine Hilfe an. Seine Stimme ist warm und dunkel wie ein Gewitter im August.
    Diesmal kann ich dir zur Flucht verhelfen.
    Du musst nur einwilligen.
    Es wird nicht wehtun.
    Wenn du alle Liebe aufgibst, um in meine zu fallen.

[zur Inhaltsübersicht]
30 .
    I ch erwache ohne Erinnerung daran, wer ich bin.
    Es ist ein schreckliches, blindes Weiß, das mich umgibt. Ganz langsam rinnt die Realität in ihre Form zurück. Ich bin ich. In einem Hotelzimmer in Paris. Mit Noir, mit einer Schusswaffe und einem Koffer voll STYX .
    Ich fühle ihre Temperatur, im Schlaf ist sie ein bisschen kälter als lauwarm, und beschließe, vorsichtshalber etwas zu mir zu nehmen, damit sie ruhig weiterträumen kann. Angenehm vertraut wölkt die Droge in mir auf.
    Ich bin Nino. Meine Schwester Katjuscha und ich, wir gehören zusammen.
    Ich lausche den Worten nach, um sie auf Richtigkeit zu prüfen, aber spüre nicht viel.
    Ich zeichne gerne. Ich bin gut darin.
    Ich stehe auf und nehme den Bleistift und den Block, die auf dem Schreibtisch liegen. Als ich Noir kennengelernt habe, war ich so verliebt, dass ich sie zeichnen musste. Ich drücke auf den Stift, bis unten eine dünne Mine herauskommt. Ich setze sie am Papier an.
    Kaum habe ich den Umriss ihres Gesichts zustande gebracht, da bricht die Mine ab. Das weiche Schürfgeräusch des Stifts auf Papier fährt mir unangenehm durch die Knochen. Ich drücke eine neue Mine heraus.
    Aber auch diese bricht. Immer wieder verliere ich meine Mine, obwohl ich nur ganz behutsam aufdrücke. Schließlich kommt kein neues Minenstück mehr aus dem Stift. Fluchend nehme ich ihn in Augenschein, irgendwas stimmt nicht damit.
    Dann merke ich, dass mit dem Stift alles in Ordnung ist. Etwas anderes ist brüchig. Meine Finger . Ich lege den Stift beiseite und befühle meinen Daumen. Er lässt sich in alle Richtungen drehen. Seit wann bin ich so gelenkig? Oder ist der Daumen nur taub; verletze ich mich gerade, ohne es zu wissen? Als ich sanft daran ziehe, erklingt ein leises Plopf . Mein Atem entfährt mir in einem Stoß.
    Ich halte meinen Daumen in der Hand.
    Der Daumen ist nicht mehr an mir befestigt.
    Mein Körper beginnt zu zittern, aber ich spüre keinen Schmerz. Der lose Daumen fällt mir aus der Hand, rollt unter den Schreibtisch. Da, wo er vorher saß, ist ein fleischfarbenes Nichts.
    Ich zittere so sehr, dass meine übrigen Finger gegeneinanderschlagen. Ich spüre, wie weich sie sind. Wie schlaff. Wie Plätzchenteig. Ich ergreife meinen rechten Mittelfinger und zerquetsche ihn ohne Anstrengung. Ein saugendes Schmatzen, und noch bevor ich meine Faust wegziehe, spüre ich, dass der Finger nicht mehr an mir ist.
    Einen Finger nach dem anderen versuche ich mir zurück an die Hand zu drücken, irgendwie wieder im Gelenk zu befestigen, aber ich stelle mich
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