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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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dem Waschbecken kaputt ist, aber sie flirrt in einem ungesunden Gelb.
    Ich kneife die Augen zusammen. Mir fällt nichts Ungewöhnliches auf. Keine stromspuckenden Kabel, die aus der Plastikwand ragen. Nicht einmal der Wasserhahn tropft. Doch dieser Geruch … Benzin. Schmorendes Reifengummi. Der Geruch zieht wie eine lange, dünne Nadel durch meine Schläfen.
    Ich trete ins Bad und schiebe die Duschwand zur Seite. Da, neben dem Abfluss, liegt ein Knochen. Fleisch und Knorpel und Adern, fett wie Gummischläuche, hängen an beiden Enden.
    Von was oder wem auch immer er stammt, vor kurzem hat er noch gelebt. Unter dem Knochen rinnt das Blut im Pulsschlag eines längst entfernten Herzens hervor, und mir wird klar, dass mich das Geräusch seines Aufpralls in der Dusche geweckt hat. Vielleicht auch das Reißen der Adern. Die frischen Spritzer an den Kacheln sprechen dafür, dass man ihn gerade erst fallen gelassen hat.
    Erfasst von einem Fieberschub, nehme ich ein Handtuch von der Stange, greife damit den Knochen – er ist noch körperwarm – und werfe ihn ins Klo. Als ich ihn hinunterspüle, knacken und knirschen die Rohre. Blassrotes Wasser spritzt gegen den Deckel. Das Handtuch muss in die Dusche, das Blut ausgespült werden. Doch als ich es hineinsinken lasse, quillt Blut aus dem Abfluss. Stückchen von Gewebe, wurmartige Venen an weißen Fettkissen.
    Wie in einem Meer aus Daunenfedern taumle ich zurück, bewege mich albtraumhaft langsam von der Tür an der Wand entlang aufs Bett zu.
    «Noir.» Ich will schreien, aber ich bringe nur ein Ächzen zustande. Meine Stimmbänder schmerzen. Ich ziehe die Decke von ihrem nackten Körper. Zum Glück, oh Gott sei Dank, sie erwacht sofort.
    «Im Bad …» Ich kann nicht davon sprechen.
    Noir versteht. Ohne Worte. Sie zieht sich an, hilft mir in meine Kleider und stützt mich, als ein Klatschen aus dem Bad kommt und ich zusammensacke. Einige Sekunden lähmt mich das Grauen. Dann nehme ich die Waffe aus der Kassette und kann gehen. Noir trägt den Koffer mit dem STYX , mit der freien Hand nimmt sie meine. Als wir am erleuchteten Bad vorbeikommen, sehe ich, wie an der Decke Risse entstehen und sich langsam ausbreiten. Flüssigkeit, blassrosa, suppt hervor.
    Noir öffnet die Tür und lotst mich durch den Hotelflur. Auf der Treppe rutsche ich auf einem Organknäuel aus, das irgendwem gewaltsam aus dem Leib gerissen wurde. Noir bewahrt mich vor einem Sturz. Meine Schuhe sind klitschnass, durch den Teppich sickert Benzin.
    Atemlos schaffen wir es durch die Lobby und hinaus in die Kälte.
    Irgendwo muss es einen Unfall gegeben haben, es riecht so sehr nach Blut, das auf heißem Blech trocknet. In der Ferne sausen Sirenen. Mir ist, als könnte ich Schreie hören, aber es ist nur das fiepende Geräusch, das meine Lungen verursachen, wenn ich ausatme.
    Noir hebt meine Hand, in der die Schusswaffe klemmt, und stellt sich vor das nächste Auto, das die Straße entlangfährt. Quietschend kommt es vor uns zum Stehen. Es ist ein alter Fiat. Noir richtet die Waffe auf den Fahrer und flüstert: «Aussteigen.»
    Im nächsten Moment sitzen wir beide im Wagen, Noir rast rückwärts, macht eine Wendung und braust davon. Den Besitzer des Fiats habe ich kaum gesehen. Holzperlen beziehen die Sitze, die mir vage bekannt vorkommen.
    «Wohin fahren wir?», frage ich sie und mich selbst.
    «Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, vor wem oder was wir flüchten, Nino.»
    «Wir müssen aus der Stadt, weg von den Menschen.» Ich strecke mich nach hinten aus, und meine zitternden Finger bekommen einen Stadtplan in der Rücksitztasche zu fassen. Woher ich wusste, dass er da war, weiß ich nicht. Ich falte den Plan auseinander. An manchen Faltstellen ist er schon eingerissen. Paris eröffnet sich als wirres Schneckenpuzzle vor mir. Weiter draußen, wo mehr Grüntöne sind als Rot und Gelb, erkenne ich einen See, an dem nur eine kleine Ortschaft zu sein scheint. Er befindet sich nordöstlich vom Zentrum.
    «Dorthin.»
    Noir nickt. Wir versuchen am Rande des Stadtkerns vorbeizufahren und halten uns auf Landstraßen. Schließlich säumen Wälder unseren Weg. Kaum Autos kommen uns entgegen.
    Etwa eine Stunde später, als ich mich wieder beruhigt habe und die erste Schneeschicht des Vergessens über den Albtraum gefallen ist, erreichen wir die Ortschaft am See.
    Sie besteht nur aus einer Handvoll Häusern, von denen kaum ein Fenster erleuchtet ist. Kein Wunder, es ist zwischen drei und vier Uhr früh, diese Stunde
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