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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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schleichende Krankheit über den Teppich aus und scheint zentimeterhoch darüber zu wabern. Noir wirkt wie durchsichtig in diesem Raum, aber noch sind wir nicht angekommen, das hier ist nicht ihre Grabkammer.
    Sie dreht sich nach rechts, schreitet auf eine Badezimmertür zu. Aus dem altmodischen Duschkopf strömt Wasser in die Wanne. Es riecht nach Mutter, nach Rosenöl und Alkohol und lippenstiftweichen Nikotinküssen an einem Sommerabend, an dem man ins Bett geschickt wird, obwohl es draußen noch hell ist und man selbst kein bisschen müde.
    Im Vorübergehen fällt mein Blick in den zerbrochenen Spiegel über dem Waschbecken, und in den Splittern sieht das Bad ganz anders aus: Aus dem Duschkopf kommt kein heißes Wasser, es gibt nicht einmal einen Duschkopf. Nur rostverfärbter Regen tropft aus der Decke. Und auch das Schlafzimmer hinter uns ist nichts als eine Ruine. Aber ich schüttle diese Wahnvorstellung ab und folge Noir durch die zweite Badezimmertür in das Arbeitszimmer des Vaters, das irgendwann zum Schlafzimmer umfunktioniert wurde: Die Couch ist eine ausgezogene Schlafcouch, die Ende der Siebziger mondän gewesen sein muss. Der orangefarbene Fransenteppich hat den Mief von Pfeifenrauch angenommen. Auf dem Schreibtisch sind Dokumente, Urkunden und eingerahmte Porträts der Tochter in Unordnung gebracht; wenn man genau hinsieht, scheinen sie pornographische Fotos zu verdecken, die sich vor Nässe gewellt haben und ausgeblichen darunter stapeln. Noir aber sieht nicht genau hin, und auch ich wende den Blick ab.
    Zwischen den Bücherregalen führt eine verwinkelte Treppe nach oben. Ich muss den Kopf einziehen, weil die Decke niedrig ist in diesem weißen Schacht. Hinter den Wänden gurgelt das Wasser, das unten aus dem Duschkopf spült, durch unsichtbare Rohre und erfüllt das Haus mit einer beunruhigenden Lebendigkeit.
    Die Treppe scheint endlos. Immer wieder geht es um eine Ecke, mal links, mal rechts. Gerade als ich mich frage, woher hier eigentlich das Licht kommt, betreten wir den Dachboden.
    Es riecht nach schimmelnder Isolierwolle und Benzin. Mitten im verfallenen Raum lodert ein Feuer. Hektische Schatten springen zwischen den Holzbalken hin und her. Die Flammen knacken und fauchen wie blitzende Stromstöße. Doch hinter diesen ablenkenden Geräuschen und Lichtern erklingt deutlich ein Schrei. Und dann wirbelt etwas Weißes in die Luft, wie Schneeflocken sieht es aus … es sind Federn.
    Jean Orin taucht aus dem Nichts auf.
    Sein Gesicht ist groß und starr wie eine Maske. Irgendeine dunkle Flüssigkeit ist ihm aus dem Mund gelaufen und beschmiert sein Kinn und den Kragen seines aufgeknöpften Hemds.
    Über die Flammen hinweg richten sich seine nackten Augen auf uns. «Als Kind fühlt man sich der Welt verbunden und nimmt sich selbst als Teil von ihr wahr, man versteht die Welt als Teil des eigenen Ichs. Erst durch den Fortpflanzungstrieb verlieren wir unsere Ganzheitlichkeit. Das Gefühl, halb und unvollkommen zu sein, ist die Voraussetzung für Liebe.»
    Und er lächelt, und wir sehen, dass er einen Hühnerkadaver ohne Kopf in der einen Hand hält und etwas Kleineres, Weißes in der anderen.
    «Für eure, diese niedrigste Form der Liebe, bedarf es einer Trennung von Herz und Verstand, von Körper und Seele!»
    Und er führt die Hand an den Mund – ich erkenne, dass er eine weiße Maus oder Ratte festhält – und stülpt seine Lippen um das Tier, verzerrt das Gesicht und wirft den Schädel wie in herzlichem Gelächter zurück. Er hat dem Tier den Kopf abgebissen. Die beiden kopflosen Tierkadaver lässt er zweimal aneinanderklatschen und schmeißt sie ins Feuer.
    Die Gewissheit, dem Tod gegenüberzustehen, rutscht mir wie ein Schleier Finsternis über die Augen, sodass ich einen Moment lang fürchte, ohnmächtig zu werden. Als ich wieder bei mir bin, hat Monsieur Samedi den Rattenkopf geschluckt oder ausgespuckt, jedenfalls leckt er sich über die dicken Lippen.
    «Noir. Meine Schwestertochter. Sind wir nicht eins?» Er legt den Kopf schief, obwohl er keine Antwort erwartet. Er spricht mit uns wie mit Puppen. Für ihn besitzt nur er selbst Wirklichkeit.
    «Geht es dir gut, du abgefallener Teil von mir? Glaubst du, du hättest nur eine Minute mit ihm überlebt, wenn ich dir nicht gefolgt wäre? Ich habe dir Opfer dargebracht, du hast dich von meinen Opfern ernährt, mein Glückskind. Ich bin dein Herz, ich bin dein Mann, ich bin dein Leben, du Spukgespenst, du falsche Fotze.»
    Er knurrt und
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