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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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allertiefster Einsamkeit. Dann kommt der See.
    Erst halte ich ihn für eine weite, dunkle Wiese. Der Fiat folgt der Landstraße um eine Kurve, die Scheinwerfer stürzen ins Nichts und berühren plötzlich kräuseliges Ufer. Dass der See einfach daliegt, im Dunklen, scheint uns wie eine Offenbarung. Gleich darauf ist er hinter Tannen verschwunden. Als er wieder auftaucht, ist er sehr viel weiter weg. Wir biegen auf einen Kiesweg ab und kommen zu einem Parkplatz. Noir hält an, löscht aber nicht das Licht. Die Bäume und ihre Schatten wirken gespenstisch, sind Geister lange verstorbener Urtiere. Irgendwo dahinter liegt jetzt der See.
    «Kommt es dir hier bekannt vor?» Meine Stimme ist dünn wie ein Faden in der meilenweiten Stille.
    Noir wendet sich mir zu. Ihr Gesicht ist ganz leer. Sie weiß nicht, ob das hier ihre Heimat ist, und wie sollte sie auch? Wer auf dieser gottverlassenen Welt kann schon behaupten, seine Heimat zu erkennen, denke ich, öffne die Arme und nehme sie auf meinen Schoß.
    «Ich bringe dich um, nicht wahr?», flüstert sie, als sie auf mir ist.
    Ich möchte sie anlügen. Aber es geht nicht. Lange betrachte ich sie, ihr Gesicht, ihre Gestalt, das Geheimnis meines Lebens.
    «Wie dumm, seine Zukunft kennen zu wollen», denke ich laut. «Man kann sich selbst in der Zukunft nicht verstehen, weil man dann schon ein anderer ist. Jetzt, wo ich der andere bin, heiße ich alles willkommen, was ich früher gefürchtet habe.»
    «Ich will nicht, dass du für mich stirbst.»
    «Ich lebe doch für dich.»
    Ein leichter Benzingeruch liegt in der Luft, und mir ist bewusst, dass unter den Sitzschonern aus Holzperlen Blut und wunde Körperflüssigkeiten quellen, aber ich versuche nicht daran zu denken.
    Wir schlafen miteinander. Wie Kometen, die im Universum aufeinanderprallen, kommen wir zusammen, um die Naturgesetze zu brechen und flüchtig mehr zu sein, als tatsächlich da ist. Das, der Augenblick vollkommener Gegenwart, ist das Ende unserer Vergänglichkeit. Und ich empfinde angenehmerweise gar nichts mehr.

[zur Inhaltsübersicht]
31 .
    S päter kämpfen wir uns durch das Dickicht, bis wir den See erreichen. Unsere Füße versinken in Schlamm und Brackwasser, Schilfrohre reiben sich aufdringlich an unseren Beinen, und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich froh oder beunruhigt bin, in der Dunkelheit nichts sehen zu können. Ich werde die Angst nicht los, der Koffer mit dem STYX könnte sich plötzlich öffnen und seinen Inhalt ausspucken, darum halte ich ihn an die Brust gedrückt. Der Koffer ist mein Sarg, aber auch das Boot, auf dem Noir den Fluss zurück überqueren könnte.
    Wir waten eine Weile umher, bis wir einen Steg finden. Der Steg führt uns auf eine Wiese. Nicht weit entfernt schwebt ein erleuchtetes Rechteck in der Nacht. Im Näherkommen erkennen wir, dass es eine offen stehende Tür ist. Auf dem Boden liegt ein Kronleuchter mit einer abgerissenen Eisenkette, um die sich ein abgerissenes Kabel windet. Die Arme des Kronleuchters sind über und über mit brennenden Kerzen beklebt.
    Wir gehen langsam, in dem Wissen, nicht anhalten zu können. Das Haus im Dunklen dünstet so viel Vertrautheit aus, dass man sie fast riechen kann: Sie riecht nach Lebkuchen und altem Babypuder und mottenzerfressenen Kuscheltieren.
    «Jemand erwartet uns», stelle ich fest. Dass Noir zu ergriffen ist, um etwas dazu zu sagen, verstehe ich. Es macht ja auch keinen Unterschied. Hineinzugehen, zu empfangen, was uns empfangen will, war von Anfang an Sinn unserer Reise. Unvermeidlich wie Tropfen an einer Glasscheibe laufen wir unserem Schicksal entgegen.
    Beim Betreten des Eingangs wird es schlagartig warm. Es liegt nicht an den Kerzen, es ist auch keine Heizungswärme. Die Wände, die wir im Vorbeigehen mit den Schultern streifen, strahlen eine herbstliche Glut aus, wie von Händen aufgewärmte Haut.
    Der Flur verliert sich da, wo der Schein des Kronleuchters endet, im Nichts. Wir gehen weiter, ohne Schatten zu werfen. Links erscheint eine Öffnung. Im Raum dahinter ist die Zeit stehengeblieben:
    Dicke, mit Vögeln und Pflanzen bestickte Vorhänge sind vor die Fenster gezogen, aber Sonnenlicht dringt durch die Ritzen und verfängt sich in einem Kristallgefäß und mehreren Gläsern, an deren Rand Lippenstiftabdrücke kleben. In den Weinresten am Boden treiben Obstfliegen. Die Kissen senden einen buttrig säuerlichen, weiblichen Geruch aus. Eine Kosmetikdose ist auf dem Boden zerbrochen, das Rouge breitet sich wie eine
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