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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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lächelt und bückt sich hinter dem Feuer. Als er sich wieder erhebt, hat er einen Schuhkarton geöffnet und ein schweres, dunkles Ding herausgehoben. «Das ist für dich, ein Geschenk!»
    Er wirft das Ding zu uns. Noir zieht mich zur Seite.
    Schwer schlägt es auf den Holzboden und kugelt auf uns zu. Als ich begreife, dass es ein Kopf ist, fällt der schwarze Schleier wieder über mich. Blutige Stränge hängen aus dem Hals, zerzaust wie die Haare. Die Zunge quillt geschwollen aus dem Mund. Es ist Amoke. Ihr Kopf.
    «Siehst du? Ich beschütze dich. Ich rette dich. Du bist ich, Noir. Wir sind eins. Oder etwa nicht?»
    Monsieur Samedi tänzelt auf einen Schrank zu, den ich bis jetzt nicht wahrgenommen habe. Er ist aus glänzendem gestreiftem Holz und hat unsichtbare Griffe. Als er ihn aufreißt, weht uns ein Sturm Sommerluft entgegen.
    Staubfussel flattern wie hektische Schmetterlinge in die Höhe und verkokeln in den Flammen. Noir stöhnt unter der Flut der Erinnerung.
    «Du denkst doch, du könntest wieder sie werden … sie, von der du träumst. In Wahrheit ist sie mein Traum. Ich habe sie erschaffen, und ich kann sie vergessen, und wenn ich sie vergesse, hat es sie nie gegeben.» Er reißt eine Schublade aus dem Schrank und wirft sie ins Feuer.
    Noir geht in die Knie. «Nein!»
    Monsieur Samedi zieht noch zwei Schubladen hervor und lässt sie mit ihrem schillernden, klirrenden Inhalt in die Flammen sinken. Es riecht nach verbranntem Mädchenhaar, nach verklumpendem Kinderspielzeug, nach Filmrollen, die in Rauch aufgehen.
    «Aufhören!» Ich lasse den Koffer fallen, umschließe mit beiden Händen die Waffe und entsichere sie.
    «Wenn du mich erschießt, stirbt Noir! Und wenn Noir stirbt, was ist dein Leben dann noch? Du bist nur ein abgenagter Knochen, du Schlappschwanz. Du bist nichts, du Nichtsnutz, du Junkie, du …»
    «Sie lebt von meiner Liebe, meiner», sage ich, es ist ein Gebet, ich schließe die Augen, dies ist die Probe, die letzte Wahrheit: Und ich drücke ab.
    Die Kugel trifft Monsieur Samedis Brust mit einem zischenden Platzen.
    Noir sinkt zu meinen Füßen wie der Schatten eines gefällten Baumes.
    Monsieur Samedis Brust scheint anzuschwellen. Röchelnd rennt er durch das Feuer auf mich zu.
    Ich drücke ab. Tränen ziehen Blindheit um mich.
    Ein Loch reißt seine Stirn auf. Dunkelheit sickert hervor, erst langsam, dann sturzweise. Aus dem Nichts fällt Amor zu Boden. Monsieur Samedi stolpert über den reglosen Körper.
    Wieder drücke ich ab. Die Kugel trifft ihn irgendwo im Gesicht und reißt ihn nach hinten. Eine Gestalt taumelt in die Flammen und zerfällt, aber es ist nicht Monsieur Samedi. Er kommt weiter auf mich zu.
    Ich schieße. Ich schieße, bis die Waffe nur noch Klickgeräusche japst. Monsieur Samedi geht, ölige Löcher, wo einst sein Gesicht war, vor mir auf die Knie. Seine Brust hebt und senkt sich. Dann stürzt er nach hinten. Seine Handflächen sind nach oben gekehrt, als würde er darauf warten, ein göttliches Geschenk entgegenzunehmen. Dann schließen sich seine Fäuste.
    Die dicken Adern an seinem Hals erstarren, als gerinne das Blut darin zu Zement.
    Die Waffe rutscht mir aus der Hand. Ich knie mich neben Noir.
    Sie sieht mich an. Blinzelt. Blut sickert durch ihren Pullover. Ihr Haar flimmert, wird von Schwarz zu Grau. Falten ziehen durch ihr Gesicht und verschwinden wieder wie Wolken und Sonnenlicht.
    «Du gehörst zu mir.» Als ich es sage, spüre ich, dass ich schluchze. «Es ist doch echt. Was ich fühle. Du bist die Wirklichkeit. Nichts sonst.»
    Ihre Finger greifen in die Luft, ich nehme sie in meine Hand.
    Ich halte dich. Du bist … ich glaube an dich, ich halte dich.
    Der Koffer mit dem STYX liegt in Reichweite. Ich ziehe ihn zu mir, meine zitternden Finger kriegen den Verschluss erst beim dritten oder vierten Versuch auf.
    Als ich ihn fallen gelassen habe, ist das Pulver herausgestaubt. Das ganze Kofferinnere ist weiß. Ich greife eine Spritze, ziehe meinen Ärmel mit den Zähnen zurück und steche mir die Kanüle in die Pulsader. Als ich abdrücke, tut es einen Augenblick weh, dann versinkt der Druck in meinem Arm.
    Noir atmet nicht. Sie scheint durchsichtig, wie aus Papier.
    Ich drücke mir eine zweite Spritze ins Handgelenk, nicht sicher, ob ich überhaupt eine Ader erwischt habe.
    Die Tore in mir öffnen sich.
    Ein mächtiger Fluss strömt herein.
    DU BIST WACH .
    Ich lenke all meine Gedanken auf Noir.
    Die dritte Spritze setze ich in meiner Armbeuge an, und als
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