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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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waren.
    Er merkte, dass er nicht der Einzige war, der am Ufer stand. Neben ihm war das blutige Gesicht, das die Heckscheibe zertrümmert hatte.
    Das Gesicht war sehr schön. Er sah die Augen wie durch ein Mikroskop vergrößert, die Lichtgebirge der Iris, die pulsierenden Pupillen mit ihrer weltalltiefen Finsternis, und eine sonderbare Erregung durchspülte ihn, so als würde er in diesen Augen versinken wie in den Armen seiner Mama, nur noch tiefer.
    Die Frau, der die Augen gehörten, machte einen Schritt, um über den Fluss zu gehen. Die Fluten verwandelten sich in einen gierigen Strudel, packten ihren Fuß und zogen sie hinab. Sie warf Nino einen entsetzten Blick zu. Lauter wichtige, drängende Fragen rasten ihm durch den Kopf, aber er brachte kein Wort hervor.
    «Julie!», japste sie.
    Er begriff, dass das ihr Name war.
    Er wollte ihr auch seinen Namen nennen, aber er erinnerte sich plötzlich nicht an ihn, er wusste ja gar nicht richtig, wer er war. Schon hatte das schwarze Wasser sie verschlungen. Tropfen spritzten ihm auf die Stirn und er spürte, wie auch über ihn eine taumelnde Schwerkraft hereinbrach und ihn vom Fluss fortzog, durch die Stille, bis die Stimmen auseinanderfädelten, wieder zu Lärm wurden,
Er wacht auf! Wir haben ihn! Wir haben ihn!
, und im Lärm das Piepen seines Herzschlages, blendende Lichter, Menschen in grünen Anzügen, die sich über ihn beugten, seinen Körper an Schläuche anschlossen und am Leben hielten.

[zur Inhaltsübersicht]
1 .
    E in monströser Puls, begleitet vom Kammerflimmern elektronischer Beats, schwappte aus dem grün beleuchteten Eingang in die Dunkelheit. Für ihn klang es wie Sirenengesang.
    Nino Sorokin zündete sich an seinem Zigarettenstummel gleich die nächste Zigarette an, obwohl er eigentlich Nichtraucher war. Aber er hatte die Marlboros gerade erst gekauft und hielt eine volle Schachtel immer für ein verräterisches Indiz dafür, dass man nur aus sozialen Gründen rauchte – und wer wollte sich schon zu jener prätentiösen Gruppe von Menschen bekennen, die sich zu schade war für echte Sucht? Gesundheitsbewusstsein war angesichts dieser Umgebung auch geradezu lächerlich. Nervös nahm er zwei Züge. Er kannte die meisten Clubs der Stadt, die Technotempel voller Touristen, die versteckten Drogenhöhlen, die jedes halbe Jahr geschlossen und anderswo neu eröffnet wurden, die Schickimickiläden, wo alterslose Frauen nach dem Mann mit der größten Champagnerflasche Ausschau hielten. Aber das hier war selbst für ihn neu: ein heruntergekommenes Fabrikgebäude mit eingestürztem Dach, in dem nur diese eine Nacht etwas stattfinden würde, ohne Regeln und Tabus. Und natürlich ohne Genehmigung. Philip hatte ihm vor einigen Wochen die Adresse eines Internetblogs gegeben, auf der man die süßesten Katzenbabyfotos fand – und alle paar Monate ein weißes Kaninchen, das einem die Zeit und den Ort
der
Party der Stadt verriet. Diesmal in einem verfallenen Chemiewerk am Ende der Welt, das hieß zehn Minuten von der letzten S-Bahn-Station und gefühlte 30 000 Kilometer von der Realität entfernt.
    Gut vierzig Leute standen Schlange vor dem Eingang. Nino ließ den Blick über die von Zigarettenglut umschwärmte Menge schweifen: die üblichen androgynen Mädchen und Jungen in Klamotten vom Flohmarkt, sorgfältig mit nostalgischen Fuchsschwänzen und Fellmützen bestückt, obwohl es August war und auch nachts warm genug, um ohne Jacke auszugehen, ganz zu schweigen von Mützen. Hier und da erblickte er ältere Typen in Jogginganzügen mit verlebten Gesichtern, die besoffen waren oder sich ganz bewusst zum Clown machten. Restposten der Rave-Ära, die den Zug ins Erwachsenwerden verpasst hatten. Aber sie wussten immer, wo es etwas zu feiern gab.
    Er zückte sein Handy und rief Philip an. Zwei Versuche waren erfolglos geblieben, aber jetzt ging er endlich dran. Aus dem Hörer dröhnte verzerrte Musik, dann ein Brüllen: «Wo steckst du!»
    «Ich bin draußen! Da ist eine Schlange!» Eine Schlange vor einer illegalen Party, bei Gott.
    «Warte! Ichhrchschmrchschaaai!» Die Verbindung brach ab. Nino war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte, dass Philip rauskam. Er fingerte eine weitere Zigarette aus der Schachtel. Ein Mädchen entdeckte ihn im Schatten des Schrottberges, wo er stehen geblieben war, und torkelte auf ihn zu. Auf Englisch, mit einem starken schwedischen Akzent, bat sie ihn um eine Kippe. Er gab ihr seine. Sie hob ihre Bierflasche als Zeichen des Dankes
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