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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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aus Monsieur Samedis Fingern. Nino zögerte.
    «Du bist blind, mein Freund», sagte Monsieur Samedi. «Deine Augen müssen sich zuerst öffnen.»
    Irgendein halluzinogener Scheiß also. Halluzinationen waren das Letzte, wovon er mehr brauchte. Trotzdem öffnete Nino folgsam den Mund und ließ sich von dem Araber die Pille verabreichen.
    «Hat jemand was zum Runterspülen?» Lasziv balancierte Julia die Pille auf der Zunge und drehte sich um.
    River reichte ihr eine Bierflasche. Sie nahm einen Schluck und gab sie an Nino weiter. Er wischte die Öffnung ab und trank, wobei er die Kapsel unauffällig in die Flasche spuckte. Hoffentlich hatten sie das Geld nicht nur dafür hingeblättert. Aber dass der Araber sie vor dem Ritual unter Drogen setzen wollte, war kein gutes Zeichen.
    Jetzt erst hob Philip diskret eine Hand, um sie zu sich zu winken. Während er und Julia zu ihm gingen, um alles Weitere abzuwarten, kam ihm die Erinnerung an seine vergangenen Misserfolge. Einmal hatte er sich mit einem Haufen Midlife-Crisis-erschütterter Esoteriker angefreundet, Begeisterung für Yoga geheuchelt und kindische Zeremonien abgehalten – völlig umsonst. Noch schlimmer war Clara gewesen, eine Wicca praktizierende Ökohexe aus dem Kunststudium, der er viele Abende lang beim Geschlechtsteilezeichnen und Ausheulen über ihre Kindheit Gesellschaft geleistet hatte, nur um schließlich zu erfahren, dass ihr Vater überhaupt kein Satanist war, sondern ein pensionierter Religionslehrer aus Köpenick. Clara rief ihn immer noch manchmal an, obwohl er das Studium längst abgebrochen hatte, ebenso wie die fruchtlose Freundschaft zu ihr. Als er vor ein paar Monaten gehört hatte, dass es eine okkulte Bewegung in der Drogenszene gab – Leute, die angeblich von Gläserrücken berauscht wurden –, hatte das seine Neugier geweckt. Wer der konkreten Wirkung wegen und nicht aus spiritueller Überzeugung solche Rituale betrieb, hatte keinen Grund, sich etwas einzubilden. Andererseits war es gut möglich, dass Gläserrücken deshalb in der Szene funktionierte, weil hier sowieso jeder zugedröhnt war. Wenn sich alles nur als ein Reinfall erwies, hatte er eine Menge Zeit verschwendet. Und genau davon blieb ihm nicht viel.
    Monsieur Samedi hob wieder die Arme, verdrehte die Augen und begann in einer fremden Sprache zu sprechen. Erst hielt Nino es für Arabisch, dann merkte er, dass es genuscheltes Französisch war. Es klang wie ein Gebet, endlos und monoton. Die Teilnehmer lauschten bedächtig.
    «Woah», hauchte Julia. Vielleicht tat die Tablette schon ihre Wirkung.
    «Woher kennst du diesen River?», zischte Nino ihr zu.
    «Er hat uns MDMA verkauft.»
    Monsieur Samedis Stimme schwoll zu einem wortlosen Brüllen an. Julia zuckte zusammen, als gelte der Wutausbruch ihr. Doch Monsieur Samedi hatte jetzt die Augen geschlossen und schien seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Als er wild mit dem Dolch durch die Luft zu schneiden begann, entfuhr ihr ein Kichern. Nino hielt ihr erschrocken die Hand vor den Mund. Falls der Araber sie gehört hatte, ignorierte er den Spott so professionell wie ein Schauspieler auf der Bühne.
    Julia bekam einen hysterischen Lachanfall. Er legte einen Arm um sie. «Oh Gott», japste sie. «Fuck.» Und bebte weiter vor Lachen. Zugegebenermaßen war das Ganze lächerlich, aber wenn es wirklich funktionierte, dann hätte er Monsieur Samedi auch dabei zugesehen, wie er sich mit dem Dolch rituell die Fußnägel säuberte.
    Der farblose Mann erschien neben dem Araber – Nino erkannte ihn mehr an den Handschuhen und dem Pferdeschwanz als an seinem Gesicht. In der einen Hand hielt er eine brennende Zigarette, in der anderen seinen Beutel. Irgendetwas bewegte sich jetzt ganz deutlich darin.
    «C’est pour toi, pour l’esprit de samedi …»
    Monsieur Samedi tauchte seine Hand in den Beutel und zog ein lebendiges Huhn hervor. Das krakeelende Tier versuchte sich aus seinem Griff freizukämpfen und verteilte schneeweiße Federn in der Dunkelheit.
    «
De cette vie en l’au-delà … une offre!»
    «Was –» Julia krallte sich in sein T-Shirt.
    Monsieur Samedi hob den Dolch und schlitzte das Huhn von der Kehle bis zum Bauch auf.
    Julia lachte nicht mehr. Starr vor Schreck klammerten sie sich aneinander, während das Huhn panisch gackerte und mit den Flügeln schlug und sein Blut den Zuschauern auf die Schuhe spritzte. Kerzen erloschen fauchend unter dem Regen.
    Als das Tier sich kaum noch bewegte, schüttelte Monsieur Samedi
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