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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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einer alt gewordenen Nacht.
    Hinter den Fabrikdächern dünnte die Finsternis bereits aus. Die Musik war kaum mehr als ein Pochen im Boden. Hier und da klirrten Scherben. Er hatte Durst.
    «Nino! Jetzt warte doch mal!»
    Er drehte sich um und erblickte Julia. Obwohl sie besorgt klang, wirkte ihr Gesichtsausdruck eher wütend. Die zerlaufene Wimperntusche hatte ihr schwarze Tränen über das Gesicht gezogen. Sie sah aus wie aus einem Zombiefilm. «Ich hab dich die ganze Zeit gerufen, Mann!»
    «Ich hab dich nicht gehört. Entschuldige.»
    Sie taumelte noch näher. «Du stirbst! Du wirst heute sterben, hat er gesagt!»
    «Ich sterbe frühestens in drei Tagen.»
    Sie starrte ihn so verständnislos an wie jeder, dem er das bisher gesagt hatte. Seine Schwester, Freunde, diverse Psychiater – alle hatten diesen kuhäugigen Ausdruck gehabt, ehe etwa fünf Sekunden später das Mitleid einsetzte, weil man ihn für nicht ganz dicht hielt. Aus diesem Grund hatte er seit dem Vorfall niemanden mehr damit beunruhigt. Aber Julia sollte sich keine Gedanken machen, wie er den heutigen Tag überstand.
    «Du bist echt …» Sie schien nicht auf das passende Wort zu kommen. Stattdessen sank sie in seine Arme und steckte ihm die Zunge in den Mund.
    Sie hatte einen bitteren Geschmack. Er wollte gar nicht wissen, was für Drogenrückstände er da probieren durfte. Nino drückte sie zurück und kam auf keine bessere Idee, als ihr den Pony aus dem Gesicht zu streichen, um sie von sich fernzuhalten. Sie kniff die Augen zusammen.
    «Geht es dir gut?»
    Sie schlug beleidigt seine Hand weg. «Du schuldest mir noch Geld.»
    «Ja, das kriegst du wieder. Ich hab aber jetzt nichts dabei.»
    Sie kramte ein Handy aus ihrer Umhängetasche. «Gib mir deine Nummer.»
    Er tat es. Dann verlagerte sie ihr Gewicht auf einen Fuß, schob die Hüfte zur Seite, strich das Handy über ihre Wange. In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren.
    «Jetzt hast du auch meine», sagte sie zufrieden. Einen Moment lang wünschte er sich, er hätte ihr eine falsche gegeben. Einfach weil sie ihn gleich so kontrollierte.
    «Also, ruf mich an und gib mir die Kohle zurück.»
    «Das werde ich», log er mit seinem vertrauenswürdigsten Lächeln.
    Sie fuhr sich durch die Haare. «Na dann …
adios
!» Mit einer affektierten Handbewegung stolzierte sie zurück in die Fabrik.
    Nino verschränkte die Arme. Es war kühl geworden, und ihm war, als hätte er heute Nacht mehr verloren als die Hoffnung, am unwahrscheinlichsten Ort der Stadt Antworten zu finden. Irgendwas hatte er vergessen … Erschöpft schlug er den Weg zur S-Bahn-Station ein. Auf einer Bank entdeckte er Itsi, der über einer Bierflasche eingenickt war. Er weckte ihn auf, als die S-Bahn kam.
    Sie fuhren gemeinsam vier Stationen, bis Nino vorgab, umsteigen zu müssen. Zu Fuß würde er bestimmt eine Dreiviertelstunde nach Hause brauchen. Müdigkeit und frische Luft, das waren die besten Mittel gegen Grübelei. Und er wollte an gar nichts mehr denken.
    Metallschwere Helligkeit stieg über den Industriegebäuden auf und gab der Welt zögerlich ihre Farben zurück. Krähenscharen sammelten sich krächzend in den Baumwipfeln, die ersten Gestalten stiegen in die U-Bahn-Schächte, und überall flimmerten wie Abermillionen Stromstöße in einem zu Ende träumenden Gehirn die Straßenlaternen aus. Er ging schnell, sah seine Schnürsenkel nach allen Seiten fliegen. Er roch Straßenteer und Stadtstaub und eine Ahnung von Herbst, die Gullys schepperten zwischen vorbeirasenden Autos und unterirdischen Zügen, und für alle anderen Menschen begann der vorletzte Arbeitstag einer spätsommerlichen Augustwoche. Nur für ihn war es der letzte Donnerstag, bei dem er ganz sicher war, dass er ihn überleben würde.

[zur Inhaltsübersicht]
JETZT
    Wir sterben. Die ganze Zeit. Du weißt es, weil du die Gabe besitzt, den Tod zu sehen. Auch du warst jemand, der gestorben ist. Wir sterben meistens, ohne eine so offensichtliche Spur wie eine Leiche zurückzulassen.
    Du hockst dich neben sie ans Bett, als sie sich zu regen beginnt. Ihre nackten Beine, ihre Arme streifen den Schlaf ab wie eine Plastikfolie. Ihre Zehen graben sich ins Laken und lassen los, wie Katzen das mit ihren Krallen tun. Sie dreht den Kopf, ihr Atem schlägt dir gegen die Stirn. Als spüre sie den zarten Aufprall, öffnet sie die Augen und sieht dich an.
    «Hallo.» Ihre Stimme ist noch rau, sie schluckt. «Haben wir …?»
    Du nickst.
    «Es wird immer natürlicher»,
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