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Noir

Noir

Titel: Noir
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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es weiter, verteilte das Blut auf dem Boden, den Wänden. Eingeweide quollen aus dem aufgeschnittenen Bauch. Nino versuchte seine Übelkeit niederzukämpfen. Katjuscha war Vegetarierin, er war praktisch fleischlos aufgewachsen, abgesehen von den heimlichen Besuchen bei McDonald’s mit seinen Schulfreunden.
    Monsieur Samedi zog einen Holztisch aus einer Ecke und ließ das tote Tier darauffallen.
    «Mit Blut breche ich den Wall von hier nach dort … Ewiger Fluss, nimm dieses Leben auf. Teile deine Macht!»
    Er drehte das Huhn um, öffnete den Leib und zerrte mehrere blutige Klumpen heraus. Die Organe arrangierte er auf dem Tisch zu einem Kreis, den Kadaver warf er gegen die Wand, wo er, Spuren über die Kacheln ziehend, zur Erde sank. Dann streckte er die Hand aus und ließ sich von dem farblosen Mann ein Glas geben, das er umgekehrt in die Mitte knallte.
    Zum ersten Mal seit Beginn der Zeremonie richtete er den Blick auf sein Publikum. Einem nach dem anderen sah er ins Gesicht. Bei Nino schien ein fragendes Lächeln um seine Augen zu zucken.
    «Der Tod ist immer hungrig, der Tod ist niemals satt, sein Tisch ist reich gedeckt, und heute teilt er ihn mit euch. Wer traut sich her?»

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3 .
    Z ögerlich traten die Zuschauer näher. Die, die bereits wussten, was sie erwartete, streckten Monsieur Samedi ihre Hand hin, um sich von ihm mit dem Dolch in den Zeigefinger stechen zu lassen.
    «Gott», murmelte Julia, aber auch sie näherte sich wie hypnotisiert dem Tisch. Blutige Fingerspitzen wurden auf das Glas gelegt, bis darauf kaum noch Platz war. Dieselbe Klinge für alle. Da konnte man genauso gut mit fünfzehn Junkies die Spritze teilen. Nino tastete seine Jeans ab und zog seinen Schlüsselbund heraus, an dem ein kleines Taschenmesser hing. Als Julia ihre Hand schon dem Araber reichen wollte, zog Nino sie zurück.
    «Willst du das wirklich machen?»
    Sie sah ihn verständnislos an. «Du blamierst uns!»
    Er atmete tief aus, dann stach er zuerst sich und dann ihr mit seinem Taschenmesser in den Zeigefinger. Sie gab ein Wimmern von sich, presste aber ihren Finger auf die letzte freie Kante des Glases. Nino hielt seinen Finger neben ihren, ohne das blutverschmierte Glas zu berühren. Wahrscheinlich war er der einzig Nüchterne in der Runde. Er versuchte, nicht auf die glänzenden Hühnerorgane zu blicken, und bemerkte, dass die Buchstaben von A bis Z und alle Zahlen von Null bis Neun in den Tisch eingekerbt waren. Ein Ouija-Brett.
    Monsieur Samedi hielt seine triefende Hand über das Glas. An jedem Finger trug er einen Ring. «Wir beschwören dich, Geist! Zeige dich!»
    Nino wollte fast den Kopf schütteln. Er hatte schon geglaubt, es könnte ihn nichts mehr überraschen. Aber es gab immer noch eine Nische, die dunkler und dreckiger war als alles, was man kannte.
    Die anderen begannen einzustimmen: «Zeige dich! Zeige dich!»
    «Durchströme uns, ewiger Fluss des Lebens und des Todes. Erfülle uns, nimm das Tote an und gib dafür Leben …»
    Das Glas wackelte. Die Leute hielten den Atem an. Nur Nino wunderte sich nicht, dass ein Glas unter fast fünfzehn Fingern zu beben begann.
    Monsieur Samedi stieß ein zufriedenes Seufzen aus. Das Glas rutschte so plötzlich zu einer Seite, dass Julia ein Schreckenslaut entfuhr. Nino behielt die bebende Hand des Arabers im Auge. Vielleicht waren Magnete an den Ringen angebracht.
    «Ja», flüsterte Monsieur Samedi. «Es ist hier, meine Freunde. Wer will mit ihm sprechen?»
    «Wie heißt du?», stammelte ein hagerer junger Mann, der heftig zitterte. Gebannt starrten alle auf das Glas.
    Nino konnte nicht sagen, ob Monsieur Samedis Hand dem Glas folgte oder umgekehrt, jedenfalls setzten sich beide in Bewegung und wanderten von einem Buchstaben zum nächsten. Alle sprachen mit:
    «S … A … T … A … N.»
    Elektrisierendes Schweigen trat ein. Das Glas ruckelte auf der Stelle – einmal erbebte es ganz deutlich im Takt der Musik, die hinter den Wänden donnerte.
    «Herz», wimmerte einer. «Das Herz, es bewegt sich!»
    Die anderen keuchten und starrten fasziniert auf die Hühnerorgane.
    «Die Buchstaben fliegen», murmelte ein anderer.
    Nino konnte keine Bewegung feststellen, weder in den blutigen Klumpen noch in den eingravierten Buchstaben. Nur das Glas begann holprig im Kreis zu fahren.
    «Darf ich eine Frage stellen?» Nino fuhr sich über die Lippen. Unmöglich zu sagen, ob das Glas von den Fingern geschoben wurde oder einem Magnet an Monsieur Samedis
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