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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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allem Windräder und stellt sie auch auf. In Patagonien gibt es ja fast immer Wind – wenn nicht sogar Sturm.
    Trotzdem arbeitet er für diese Firma. Das kam so: Bevor es sie dort unten in Punta Arenas gab, hatten alle Teile der Windräder über mehrere Tausende von Kilometern aus der Mitte Chiles in den tiefsten Süden transportiert werden müssen. Das hat eine Menge gekostet.
    Junge Leute aus einem Ort bei Punta Arenas haben dann diese Firma gegründet. Sie wollten sich ganz auf die Gewinnung erneuerbarer Energie spezialisieren. Denn die kannte man dort unten bis dahin nur dem Namen nach. Deshalb planten sie, auch Fotovoltaik mit ins Programm zu nehmen, und suchten nach Fachleuten. Papa bewarb sich. Dem Chef gefiel er. Denn auch er scheint unternehmungslustig zu sein und keine Risiken zu fürchten. Sie nahmen ihn. Erst mal probeweise.
    Weil Papa anfangs noch kaum Spanisch konnte, musste er mit einem niedrigeren Lohn zufrieden sein. Er war ja froh, überhaupt einen Arbeitsplatz gefunden zu haben! Denn auch in Patagonien gab es damals eine Menge Arbeitslose, weil nach unserer Katastrophe so viele Europäer, vor allem Deutsche, dorthin ausgewandert sind.
    Das war vor mindestens zehn Jahren. Inzwischen verdient er mehr. Trotzdem kann er uns nicht viel schicken, denn er spart für ein eigenes Haus. Er will ja nicht ewig mit seiner Frau und seinen Kindern bei seinem Schwiegervater wohnen.
    Zwei Söhne: Rodrigo und Pablito. Er hat auch mal von ihnen ein Foto geschickt. Da hat Omi noch gelebt. Sie fand, dass mir der Jüngere ähnlich sieht. Er hat auch braunes Haar und braune Augen. Und Papas neugierigen Blick. Aber keine zusammengewachsenen Brauen.
    Ja, ich weiß: Eigentlich sind es meine Stiefbrüder. Aber was habe ich mit ihnen gemeinsam, außer ein bisschen Ähnlichkeit? Sie sind mir so fremd. Ich kam nie auf den Gedanken, sie als meine Verwandten zu sehen. Der Einzige, der mich mit ihnen verbindet, ist mein Papa. Aber den kenne ich ja auch kaum.
    An die Jungen? Die sprechen kein Deutsch. Das hat mir Papa mal geschrieben. Spanisch kann ich nicht. Papa müsste ihnen meine Briefe erst ins Spanische übersetzen – und ihre Briefe an mich ins Deutsche. Wie er schrieb, hat er dazu wenig Zeit.
    Ob ich dorthin – ? Nach Punta Arenas – ?
    Nein, das Reisegeld ist nicht das Problem. Wer auswandern will, aber kein Geld hat, kann ein zinsloses Darlehen beantragen. Unsere Regierung ist ja froh, wenn sie für weniger Staatsbürger sorgen muss. Das Darlehen muss man, sobald man kann, nach und nach wieder zurückzahlen.
    Nein, es geht trotzdem nicht – wegen Mama. Die kann ich hier nicht allein lassen. Wenn ich sie nicht betreuen müsste, wäre das eine tolle Idee. Ich hab mir schon immer gewünscht, hinauszukommen, ganz weit weg, wo weder der Himmel noch die Erde verstrahlt ist und man überall auf Dauer leben kann. Wo in den Eingangshallen der Schulen keine schwarzen Tafeln für die Bilder der Toten jeder Klasse angebracht sind. Sondern wo man sich austoben und das Leben genießen kann, ohne dauernd an davor – danach und an den Tod erinnert zu werden. Wo alles duftet und strahlt, alles offen, groß und hell ist und alles in Blüte steht – wenigstens in bestimmten Jahreszeiten. Und wo das Meer in der Nähe ist. Wogen bis zum Horizont. Wellen und Wolken: alles in Bewegung. Und nicht einmal die Fische wären verstrahlt!

15
    Meine Mama? Mitnehmen nach Punta Arenas?
    Ich glaube, das würde sie nicht wollen. Als es ihr mal einigermaßen gut ging, sagte sie mir, während sie auf das Sofa zeigte: „Hier bin ich zu Hause. Ich will nirgends sein als hier.“
    Mit ihr reden, damit sie mich allein fahren lässt?
    Vielleicht hätte sie nichts dagegen. Aber ich müsste drüben immer an sie denken. Würde mir Sorgen um sie machen. Hätte ein schlechtes Gewissen.
    Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr. Ab da fast immer. Aber es gab mal eine Zeit in ihrem Leben, da schien es wohl so, als habe sie sich erholt: Als sie meinen Vater kennengelernt hat.
    Omi hat mir erzählt, da sei Mama ganz anders gewesen. Er war zu dieser Zeit Student und kam aus einer Gegend, die nicht hatte evakuiert werden müssen. Ich erfuhr, dass ihn nicht nur Omi, sondern auch Mama gut leiden konnte, weil er so viel und schallend lachte. Das muss richtig angesteckt haben! Wenn er mit bei Tisch saß, ist es laut geworden. Da hat sogar Mama lachen können! Immer, wenn ich daran denke, muss ich staunen: meine Mama und lachen! Ich glaube, ich würde sie nicht wiedererkennen,
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