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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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Waren, die aus unverstrahlten Ländern eingeführt werden. Für die anderen von uns – und das sind die meisten! – gilt eben: aus Alt mach Neu.
    Omi hat Mama und mich immer, wenn wir etwas unbedingt nötig hatten, mit Neuem versorgt: Mal strickte sie einen Schal aus aufgeribbelter Wolle, die im Davor vielleicht ein Kinderpullover war, mal kümmerte sie sich um eine bettlägerige Nachbarin und erbte dafür nach ihrem Tod ihre Kleidung. Aus irgendeiner Sammlung besorgte sie mir ein Paar Schuhe, die ich dringend brauchte. Oder sie nähte mir lange Hosen aus Opas Hosen, nachdem er sie nicht mehr brauchte, weil er auf dem Friedhof lag. Aber ich konnte sie nur ein Jahr lang tragen. Ich bin damals so schnell gewachsen.
    Nein, nicht mit der Hand. Seit der Katastrophe gibt es Nähstuben. Für eine geringe Summe pro Stunde kann man dort gespendete Nähmaschinen benutzen.
    Wenn ich Modezeitungen aus dem Davor durchblättere, kann ich nur staunen: So eine Auswahl von tollen Sachen hatte man hier! Zwar nach dem, was man heute bei euch oder in den Staaten oder in China trägt, ziemlich altmodisch. Trotzdem schick!
    Eine namibische Journalistin war neulich hier und hat sich von mir auch alles erklären und zeigen lassen. Unsere Schule war die letzte Station auf ihrer Reise. Am nächsten Tag wollte sie heimfliegen. Da hat sie mir eine ihrer beiden Jeans geschenkt.
    Ja, die, die ich anhabe. Toll, nicht wahr? Ich trage sie nur in der Schule. Sie ist so gut wie neu! Wenn mir die jemand klauen wollte – ich würde sie mit Kratzen und Beißen verteidigen!
    Ach ja, der Müll: Der bleibt liegen. Die Stadt hat kein Geld mehr, um ihn abzuholen. Zum Glück ist es nicht viel. Man kann ja fast alles noch irgendwie gebrauchen. Kinder wühlen oft darin herum. Sie hoffen wahrscheinlich, irgendetwas zu finden, was sich noch verwenden lässt. Müllsucher kannte man davor nur aus Berichten von Europäern, die durch Entwicklungsländer reisten. Jetzt gehört unser Land auch zu den fast ärmsten Ländern der Welt. Total verschuldet. Mit sehr hoher Arbeitslosigkeit.
    Nur Fernseher und Handys findet man noch in vielen Familien: Weil wir wissen wollen, was in der Welt geschieht. Auch weil wir Kontakt mit anderen brauchen. Und manche hungern lieber, als dass sie auf das Internet verzichten!

5
    Bestimmt hat es hier davor auch Leute gegeben, die arm waren. Die Mühe gehabt haben, ihre Kinder satt zu bekommen und zu kleiden. Viele Bürger armer Länder haben damals versucht in unser Land zu kommen, legal oder illegal. Manche mit großen Familien. Andere kamen allein und holten dann ihre Familie nach. Wer zu alt war oder die deutsche Sprache nicht beherrschte, hatte Mühe, einen Arbeitsplatz zu finden. Allerdings bekamen sie vom deutschen Staat eine Rente, die ihnen erlaubte, bescheiden zu leben.
    Aber seit der Katastrophe ist unser Land für Wirtschaftsflüchtlinge kein Ziel mehr. Stattdessen versuchen nun viele Deutsche, mit oder ohne ihre Familien, in anderen Ländern Arbeit zu finden, um diesem Elend zu entkommen.
    Ja, sicher. Vor der Katastrophe boomten bei uns alle diese Techniken, mit denen man erneuerbare Energien gewinnen konnte. Vor allem auf dem Gebiet der Fotovoltaik wurden große Fortschritte gemacht.
    Fotovoltaik? Das ist die Technik, mit der Lichtenergie in elektrischen Strom umgewandelt wird.
    Uns wurden in der Schule Fotos von davor gezeigt: Auf vielen Dächern waren solche Anlagen zu sehen. Auf jedem zweiten Hügel drehten sich Windräder. Man wollte ja möglichst bald nur noch mit erneuerbarer Energie auskommen. Das hätte auch alles wie geplant geklappt, wenn nicht diese furchtbare Reaktorkatastrophe geschehen wäre. Nur zwei Jahre, zwei lächerliche Jahre hätten noch gefehlt, bis in unserem Land kein einziges Atomkraftwerk mehr am Netz gewesen wäre!
    Freilich: Auch dann wären wir gegen atomare Verstrahlungen nicht absolut abgesichert gewesen. Denn auch wenn in einem Nachbarland, zum Beispiel in Frankreich, eine Reaktorkatastrophe passiert wäre, hätten wir – je nach der Windrichtung – einige Verstrahlung abkriegen können.
    Aber längst nicht eine so starke.
    Im Danach fehlt uns nun das Geld, um hier in unserem Land Sonnen- und Windenergie weiter auszubauen. Nicht einmal Ersatzteile können wir uns leisten!
    Natürlich bin ich auch der Meinung, dass nicht alles so gekommen wäre, wenn die meisten unserer Groß- und Urgroßeltern der Atomindustrie rechtzeitig Einhalt geboten hätten. Wenn sie sich verantwortlich gefühlt, wenn
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