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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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geblieben.“
    Die geschah viel weiter nordöstlich, ein paar hundert Kilometer von hier entfernt. Gerade deshalb wurden so viele Evakuierte hierhergeschafft und am Stadtrand von Freiburg untergebracht. Hier waren sie außerhalb der unmittelbaren Gefahr.
    Über die Luftströmungen, die gerade herrschten, wurden vor allem Ostdeutschland und Polen verstrahlt. Durch Änderungen der Windrichtung bekam auch Deutschlands Mitte – ja, und der Westen und Nordwesten bis hinüber nach Belgien und in die Niederlande! – starke Verstrahlungen ab. Die haben enorme Schäden angerichtet. Ihre Folgen haben den Lebensstandard unseres ganzen Landes in die Tiefe gerissen. Die Katastrophe in Deutschland hat ja viel näher bei uns stattgefunden als die von Fukushima!
    Ja, wir haben im Unterricht auch vom Wirtschaftswunder gehört. Toll, wie rasch wir Deutschen nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wieder zu Wohlstand kamen.
    Nach der Reaktorkatastrophe von 2020 blieb ein Wirtschaftswunder aus.
    Du sagst es: Die Verstrahlung des Bodens und von allem, was sich darauf oder darüber befindet, ist der große Unterschied zu früheren Katastrophen. Unser Fleiß – angeblich eine unserer Nationaltugenden – hat uns diesmal nichts genutzt. Die Verstrahlung des Bodens hat uns Deutschen die Chance genommen, uns wieder hinaufzuarbeiten.
    Man durfte damals kein einheimisches Obst essen. Das reife Getreide und Gemüse durfte nicht geerntet, sondern musste untergepflügt oder vernichtet werden. Jeder Garten war plötzlich zur Gefahr geworden. Unzählige Rinder- und Schafherden wurden getötet, weil das Fleisch der Tiere nicht mehr genießbar war. Auch die meisten Hühner-, Gänse- und Entenfarmen mussten schließen. In großen Gebieten Deutschlands darf gar keine Landwirtschaft mehr betrieben werden. Und auch außerhalb dieser Gebiete haben viele Landwirte Pleite gemacht.
    Jäger? Jagdpächter? Gibt es kaum mehr. Noch heute muss jemand, der beim Verkauf von Wildfleisch erwischt wird, mit harten Strafen rechnen. Auch wird seitdem in jedem Sommer, jedem Herbst heftig vor Pilzgenuss gewarnt. Viele Mitteleuropäer, die nach der Katastrophe zur Welt kamen, haben noch nie in ihrem Leben ein Pilzgericht gegessen. Denn importierte Pilze sind teuer. Und wer kann dafür garantieren, dass sie aus unverstrahlten Gegenden kommen?
    Ja, ihr wisst, wie Pilze schmecken! Ihr lebt ja auch auf einem anderen Kontinent. Ich beneide euch. Wisst ihr das?
    Du hast Recht: Gehen wir weiter. Hat noch jemand eine Frage zur Aula?
    Früher hatten nicht alle Schüler in diesem Raum Platz. Jetzt ja. Hier finden alle Feiern statt. Diese Schule ist bekannt für gutes Schülertheater. Natürlich alles immer im Rahmen unserer jetzigen Möglichkeiten.
    Ja, ich mache auch oft mit. Wenn Mama doch gesund wäre! Dann würde sie unten im Publikum sitzen und stolz applaudieren, wenn ich auf die Bühne käme! Und auf dem Heimweg würde sie ihren Arm um mich legen und sagen: „Du warst großartig, Vida, ich bin stolz auf dich!“
    Jedenfalls war es immer mit Omi so. Aber seit sie nicht mehr lebt …
    Nein. Niemand mehr. Niemand ist unter den Zuschauern, der sich besonders für mich interessiert. Wäre Mama so, wie man sich Mütter wünscht, würde sie mir ihre ganze Aufmerksamkeit widmen. Ich würde mit ihr über alles sprechen können, was mich bewegt. Und sonntags würden wir durch den Wald wandern und zwischen den Baumkronen die Wolken mitwandern sehen.

8
    Jetzt beginnt die große Pause, da strömt alles auf den Hof und macht so einen Lärm, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Ich schlage vor, wir gehen in die Eingangshalle. Dort ist es um diese Zeit am ruhigsten.
    Die beiden Frauen dort drüben? Die eine ist Mutter, die andere Großmutter einer meiner Mitschülerinnen – auch Freiwillige. Die teilen in der Pause Milch aus.
    Du wunderst dich, dass nur so wenige Schüler Milch trinken? Milch ist teuer. Die meisten Schüler können sie sich gar nicht leisten. Die Frauen dort teilen nur gespendete, also kostenlose Milch aus – an diejenigen, die gesundheitlich am elendesten dran sind. Immerhin sind das in unserer Schule zwischen vierzig und fünfzig. Selten, dass da mal jemand auf seine Milch verzichtet. Höchstens, wenn es ihm so dreckig geht, dass er sich – kaum hätte er die Milch im Magen – gleich wieder übergeben müsste. Ronny aus meiner Klasse hat bisher auch täglich Milch gekriegt. Die Portion von einem, der fehlt, kriegt ein anderer, der sie nötig
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