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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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sie Fragen gestellt hätten! Aber die meisten schauten weg. Wer dachte damals schon an das Schicksal der Nachkommen? Hauptsache, es ließ sich in der Gegenwart gut leben!
    Aber ich glaube, einfach nur die Wut an den Alten auszulassen, bringt nichts. Wir Jungen tun immer so, als wenn wir alles besser gemacht hätten, wenn wir damals am Zug gewesen wären. Wahrscheinlich wären wir genauso gleichgültig gewesen.
    Nein. Ich hab gar niemanden mehr daheim, an dem oder der ich meine Wut auslassen könnte: Meine Großeltern sind tot.
    Meine Eltern? Die leben noch. Aber mein Vater war zur Zeit der Katastrophe ein kleines Kind, meine Mutter ist erst danach geboren. Die haben keine Schuld, die sind selber Opfer. Für unsere Eltern ist das, glaube ich, noch viel schlimmer als für uns. Besonders tragisch ist, dass viele von ihnen total resigniert haben. Wie meine Mutter, die seit Jahren in Depressionen versunken ist.
    Ich? Ich möchte nicht zu denen gehören, die alle Hoffnung aufgegeben haben. Ich warte.
    Das weiß ich auch nicht. Auf irgendein Ziel, für das es sich lohnt zu leben. Auf einen neuen Aufbruch …

6
    Na? Keine weiteren Fragen?
    Dann will ich euch mal durch unsere Schule führen. Denn sicher werdet ihr, wenn ihr wieder heimkommt, nach dem Stand unserer Schulen gefragt werden.
    Deutschland hatte früher ein großartiges Bildungssystem. So kann man es im Internet oder in Büchern lesen. Vieles, was unsere Danach -Schule nicht mehr bieten kann, war für die Schulen vor der Katastrophe meistens selbstverständlich: Computer, toll bestückte Schulbibliotheken, Filmausrüstungen, Mikrofone, chemische Labore, mit modernsten Sportgeräten ausgestattete Turnhallen, Bühnen für Schultheater und so weiter. Und natürlich hatte jede Schule einen Hausmeister und eine Sekretärin. Die gibt es in den meisten Schulen der Danach -Zeit nicht mehr. Die nötigen handwerklichen Arbeiten übernimmt irgendein Arbeitsloser aus einer Schülerfamilie. Mit den Sekretärinnen ist es ähnlich. An unserer Schule wechseln sich zwei Frauen ab. Und putzen müssen wir selber, wie ihr ja schon gehört habt.
    Bezahlung? Lohn? – Natürlich bekommt niemand Geld dafür. Wir haben stattdessen etwas anderes, was es damals – wie man immer wieder hört – weit seltener gab: Bereitschaft zu ehrenamtlicher Tätigkeit und zum Abgeben, zum Teilen, zur Spende. Ohne gegenseitige Hilfe könnten wir nicht überleben.
    Beispiele? Alle Stühle und Tische, die ihr in diesem Klassenraum seht, hat ein Gastwirt, der seinen Betrieb schließen musste, unserer Schule überlassen. Gratis! Ein Textilladen spendete Vorhänge für das Lehrerzimmer. Aus einer Druckerei können sich Lehrer immer Restposten unbedruckten Papiers holen.
    Eine Käserei aus einem Dorf bei Konstanz schenkt uns jeden Monat eine ganze Kiste voller Käse! Der Chef dieses Betriebs ist der Bruder unserer Schulleiterin. Der Käse wird an die Kranken verteilt.
    Hier ist die Schulbibliothek. Ich glaube, sie ist gerade leer. Wollt ihr einen Blick hineinwerfen? Sie ist im Rahmen der heutigen Möglichkeiten ziemlich gut ausgestattet. Lauter Spenden aus Elternhäusern.
    Schulbücher für den Unterricht? Nein, die kriegen wir nicht kostenlos. Die musste man in manchen Bundesländern auch schon im Davor bezahlen. Wenn wir nicht genug Geld dafür aufbringen können, kaufen wir gebrauchte Schulbücher. Die kosten nur die Hälfte oder noch weniger – je nachdem, wie gut sie erhalten sind. Vor allem fehlende Seiten machen Bücher billiger.
    Vom Staat?
    Von dem am wenigsten. Es gibt so viel Not im Land, dass das wenige Geld, das der Staat hat, nur für das Allernötigste reicht …

7
    Das ist die Aula. Das große Bild dort drüben stammt noch aus der Zeit davor . Es zeigt Wyhl. Sagt euch der Name Wyhl etwas?
    Hier werdet ihr kaum jemanden finden, der diesen Ortsnamen nicht kennt. Eine kleine Gemeinde, nicht weit von hier. In den Hängen des Kaiserstuhls gelegen.
    Kaiserstuhl? Das ist ein Bergland nordwestlich von Freiburg. Dort haben viele Freiburger und viele von denen, die am Kaiserstuhl und rund darum wohnen, schon 1977 den Bau eines Atomkraftwerks verhindert. Also vor fast 100 Jahren! Dieser massive Bürgerprotest muss im ganzen Land Aufsehen erregt haben. Auf ihn ist man hier noch jetzt überaus stolz!
    Omi hat mir davon erzählt. Ihre Meinung dazu war: „Wenn ganz Deutschland mitgemacht hätte, nicht nur ein Teil der Bevölkerung rund um Wyhl, wäre uns die Katastrophe vielleicht erspart
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