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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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braucht.
    Cola? Die gibt’s in der Mensa. Am anderen Ende des Ganges. Wenn ihr wollt, können wir dort hingehen. Aber erst, wenn wieder alle in ihren Klassen sind. Denn die Pause hört gleich auf. Da geraten wir sonst ins Getümmel der Schüler, die in ihre Klassenräume zurückkehren.
    Ja, das stimmt: In diesem großen Bau hätten mehr Schüler Platz. Als meine Mama hier zur Schule ging, waren auch wirklich noch mehr da. Die Schülerzahlen sind im Lauf der vergangenen Jahre immer weiter zurückgegangen. Zum Beispiel in meiner Klasse sind nur siebzehn Schüler: acht Mädchen und neun Jungen.
    Der Grund dafür? Es gibt mehrere Gründe: Manche Eltern sind mit ihren Kindern in andere Gegenden Deutschlands gezogen. Oder ins Ausland. Viele jungen Paare bleiben mit Absicht kinderlos, weil sie ihren Kindern eine solche Welt nicht zumuten wollen. Und weil so viele Kinder krank geboren werden.
    Und dann muss man natürlich auch an die vielen Kinder denken, die an den Spätfolgen der Katastrophe starben. Im Baby- und Kleinkindalter ist das Risiko ja besonders groß, an Folgen der Verstrahlung zu erkranken. Zum Beispiel an Leukämie oder Schilddrüsenkrebs.
    Ja, es gibt Kinder, die geheilt wurden. Aber es heißt, die Therapien seien brutal. Sie belasten nicht nur die Erkrankten, sondern die ganze Familie. Nicht alle Patienten überstehen sie. Oft ist auch gar kein Geld da, um die Behandlung zu bezahlen.
    Krankenkassen? Gibt’s. Aber die zahlen längst nicht alles. Nur eine Notbehandlung.
    Schon nach früheren Reaktorkatastrophen hat man das Elend verstrahlter Menschen beobachten können. Omi hat mir von den Leiden der Fukushima-Opfer erzählt. In Fukushima –
    – ja, dort war die große Reaktorkatastrophe in Japan, 2011. Es heißt, die Japaner haben dieses Elend zum großen Teil verdrängt und haben es zu verheimlichen versucht.
    Jetzt geht es uns so. Da lässt sich nichts mehr verdrängen.
    Bei unserem Super-GAU sollen angeblich neunzehntausend Menschen umgekommen sein. Das ist die offizielle Zahl. Aber in Wirklichkeit waren es viel mehr. Das hört man von allen Seiten. Man nimmt an, dass es bis jetzt über hunderttausend gewesen sein müssen, wenn man die mitrechnet, die erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Katastrophe an deren Folgen gestorben sind. Und auch in Zukunft werden noch viele daran sterben. Ich brauche nur an Ronny zu denken …
    Was die große schwarze Tafel dort an der Wand bedeutet? Auf ihr ist für jede Klasse unserer Schule eine Reihe Platz für Namen und Fotos ihrer Toten …

9
    Wem ich ähnlicher sehe – Mama oder Papa?
    Ich bin angeblich ein Vaterkind. Mindestens ist mein Haar auch so dunkel wie seines. Und meine Augen sind so braun wie seine. Und meine dunklen Augenbrauen wachsen über der Nase fast zusammen. Was ich nicht von ihm hab, ist der Leberfleck auf der linken Wange. Der da.
    „Vida“ heißt auf Spanisch „Leben“. Meine Eltern haben mich so genannt, weil mein älterer Bruder tot auf die Welt kam. Wäre das deutsche Wort „Leben“ auch als Name verwendbar, hieße ich jetzt vielleicht „Leben Bornwald“.
    Meine Lieblingsfächer? Politik interessiert mich am meisten. Und Umweltschutz. Aber das sind keine eigenen Fächer. Über politische und Umweltthemen sprechen wir in der Schule, wenn überhaupt, noch am ehesten in Ethik . Am meisten und häufigsten hab ich mit Omi über solche Themen diskutiert. Meine Neugier hab ich von ihr.
    Gute Noten? Na ja, ich gehöre in meiner Klasse nur in mancher Hinsicht zu den Besten. Sicher aber zu den Interessiertesten. Und zu denen, die sich am besten ausdrücken können. Manche sagen, dass ich wie die Alten rede. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mich als Kind fast immer nur mit Omi unterhalten habe. Ich hatte ja sonst niemanden, mit dem ich reden konnte.
    Ich will die Welt verstehen. Ich will verstehen, warum die Dinge passieren. Und wie sie mit anderen Dingen zusammenhängen.
    Mein Zeugnis wäre besser, wenn ich mich mehr auf den Unterricht konzentrieren würde. Aber ich muss so viel nachdenken. Ich will nicht einfach die Meinungen anderer übernehmen, ohne geprüft zu haben, ob sie mich überzeugen.
    Auch wenn sie wirklich mies wären, meine Noten, lauter Fünfer und Sechser, würde das niemanden interessieren. Meine Mutter lobt nicht und straft nicht. Sie unterschreibt alles ohne Kommentar. Ich brauche ihr nur das Blatt unterzuschieben, den Kuli in die Hand zu geben – und basta. Und mein Vater lebt ja nicht bei uns.
    Aber auch wenn meine
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