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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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ein paar Bissen zu sich nimmt? Denn ich sehe ihr schon lange an, dass sie nicht mehr aus Lust am Geschmack isst. Mir geht es inzwischen ähnlich. Ich esse nur, um satt zu werden.
    Einen Arzt? Hab ich schon mal kommen lassen. Er hat gesagt, Mama wäre am besten in einer Klinik aufgehoben. Aber einen Teil der Kosten müssten wir selber übernehmen.
    Das können wir nicht.

18
    Ich denke gerade an die schwarze Tafel, die ich euch vorhin gezeigt habe.
    In der Eingangshalle. Wenn ich dran vorbeikomme, starre ich manchmal auf diese Foto-Gesichter und vergleiche: Da gibt es Klassen, die haben noch gar keine Toten. Andere haben erst ein Foto, so wie wir. Die 5b hat’s am schlimmsten erwischt. Bei der sind’s schon vier. Das ist hart.
    In unserer Reihe hängt bisher nur Tina. Die starb im zweiten Schuljahr. Bald werden es zwei sein. Der Zweite: Ronny.
    Das Alter der Toten? Im Einzelnen weiß ich das nicht. Jedenfalls mehr Jüngere als Ältere. Die Kleineren sterben schneller als die Größeren. In den Nachrichten wurde gemeldet, dass sich vor zwei Wochen eine Mutter aus Freiburg vor einen Zug geworfen hat, nachdem ihre kleine Tochter an Leukämie starb.
    Acht Jahre alt. Das einzige Kind.
    Manche Fotos auf der schwarzen Tafel sind ganz bräunlich. Von der langen Zeit, die sie schon da hängen.
    „Die Zeit heilt“, hat Omi oft gesagt, wenn wieder jemand gestorben war, den wir gekannt hatten. In meinen Kinderjahren habe ich nicht gewusst, was damit gemeint war. Inzwischen weiß ich’s. Oder nehme an, dass ich’s weiß. Heißt es nicht so etwas wie: Man gewöhnt sich an den Verlust?
    Tina war meine Freundin gewesen. Wir gingen schon zusammen in den Kindergarten. Sie kam oft um die Mittagszeit zu uns rüber – wegen der Nachspeise. Omi schaffte es, auch für sie immer noch ein Tellerchen zu füllen.
    Tinas Eltern wohnten uns gegenüber. Sobald Omi und ich morgens das Haus verließen, kam auch Tinas Mutter aus ihrer Haustür und übergab uns Tina.
    Nachmittags ging Omi am Wochenende oder in den Ferien bei schönem Wetter mit uns zum Spielplatz. Wie oft haben Tina und ich nebeneinander im Sandkasten gehockt und Hügel aus kleinen Steinen aufgetürmt! Diese Hügel sollten Ruinen von explodierten Atomkraftwerken darstellen.
    Omi hat meistens im Hintergrund auf einer Bank gesessen und irgendwas gestopft oder geflickt. Wenn sie in der Nähe war, hab ich mich sicher gefühlt. Ich erinnere mich genau daran, dass ich meinen Teddy, den ich immer bei mir hatte, an den Stamm eines nahen Baumes gelehnt habe, wenn ich im Sandkasten war. Manchmal fiel er um. Dann war er tot. Gestorben an den Folgen der Katastrophe.
    Tina hat es mit ihrer Puppe genauso gemacht. „Schon wieder tot!“, rief sie dann und schüttelte ihre Jessica. „Bleib leben – oder es gibt keine Nachspeise!“
    Da hörte ich die Mamas und Omas auf den Bänken lachen. Obwohl das eigentlich gar nicht lustig war.
    Bei euch zu Hause habt ihr doch sicher auch Berichte über Deutsche gelesen oder gehört, die nach der Katastrophe auf euren Kontinent geflüchtet sind? Es müssen viele gewesen sein. Die meisten von ihnen hatten dort Verwandte oder Bekannte.
    Ihr habt sogar einige von ihnen in eurem Bekanntenkreis? Kinder und Enkel?
    Und du bist selber Urenkel von einem, der das damals miterlebt hat? Hast ihn nie kennengelernt? Ja, die Katastrophe ist ja schon vor 41 Jahren gewesen. Da leben schon viele Augenzeugen nicht mehr.
    Heb gut auf, was er hinterlassen hat, dein Uropa. Er hat es auch für dich geschrieben. Und für deine Kinder und Enkel. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Historiker später um solche Texte reißen werden …
    Ja, ihr sagt es: Daran kann nicht oft genug erinnert werden! Wir müssen das, was wir davon erfahren oder erzählt bekommen haben, unseren Kindern weitererzählen, und unsere Kinder müssen es ihren Kindern erzählen. Dieser Wahnsinn darf sich nie wiederholen. Davon müsst ihr allen erzählen. Vergesst es nicht!
    Es hat aufgehört zu regnen. Wollen wir uns nicht draußen auf dem Hof unter das Vordach setzen? Dort ist die Luft jetzt frisch. Bald wird die Sonne wieder scheinen.

19
    Es schellt! Der Vormittagsunterricht ist zu Ende. Erst nachmittags geht’s weiter.
    Entschuldigt, wenn ich gleich verschwinde. Ich will noch schnell zu Ronny hineingucken.
    Ich hab’s ihm versprochen. Irgendwann heute. Er scheint sehr krank zu sein.
    Trotzdem kam er bis letzte Woche jeden Tag zur Schule. Er hat immer gesagt, daheim im Bett würde er verrückt
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