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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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Medikamente!“ Oder „Tanja, hast du die Versicherungsscheine?“ Oder „Zum Teufel – wo ist denn der Autoschlüssel?“
    An einem Werktag geschah es, an einem Vormittag. Zum Glück waren Ferien. Die Kinder waren zu Hause.
    Meine Großeltern? Opa hat zu dieser Uhrzeit in der Praxis gearbeitet. Omi begriff sofort, dass jetzt eine schnelle Flucht das einzig Richtige war. Deshalb hat sie sich nur die wichtigsten Papiere geschnappt – und das bisschen Geld, das im Haus war. Weil sie nicht sofort Opas Aktentasche fand, hat sie alles in eine Plastiktüte gestopft und ist hinunter zur Praxis gelaufen. Sie sind in Opas Auto gestiegen – und ab!
    Sie wollten zu guten Freunden in München fliehen. Anfangs konnten sie noch rasen. Aber bald kamen sie nicht mehr so schnell voran, denn die Autobahnen wurden immer voller.
    Dann passierte es durch einen plötzlichen Stau der Fluchtfahrzeuge vor ihnen, dass ein Transporter von hinten mit voller Wucht gegen ihren Wagen prallte.
    Es ist ihnen zum Glück noch rechtzeitig gelungen, auszusteigen. Omi sogar mit ihrer Handtasche. Aber ihr Wagen war nur noch Schrott und geriet in Brand.
    Ja, alles weg. Auch die Plastiktüte mit den Papieren stand sofort in Flammen.
    Opa telefonierte herum. Die Polizei war in diesem Durcheinander nicht zu erreichen. Ein Busfahrer nahm sie schließlich mit.
    Nein, natürlich nicht nach München. In dem Bus saßen Evakuierte aus der Stadt, aus der auch Omi und Opa kamen. Aber aus einem anderen Viertel. Omi hat mir erzählt: „In so einer Lage denkt man nur: Schnell weg, egal wohin! Und wir regten uns auch nicht darüber auf, dass wir in einem uralten Bus mit verschlissenen Bezügen fortgeschafft wurden. Er war rappelvoll und es roch nach Urin und Kot, weil der Fahrer sich nicht getraut hat, irgendwo länger anzuhalten. Aber wir zweifelten nicht daran, in ein paar Tagen wieder daheim zu sein.“

23
    Omi und Opa hatten noch Glück. Ihr Fahrer ließ den Bus nicht im Stich, wie so viele andere, und gab sich Mühe, seine unfreiwilligen Passagiere in irgendeinem Notlager unterzubringen. Die Bewohner des Gebietes rund um das havarierte Atomkraftwerk wurden in risikofreie Gegenden in ganz Deutschland verteilt. Dort wird sich Ähnliches abgespielt haben wie hier.
    Was sich hier abgespielt hat? Der Bus mit den Evakuierten, unter denen sich auch Omi und Opa befanden, fuhr über Würzburg bis nach Plochingen bei Stuttgart.
    Warum? Diese Weisung hatte der Busfahrer bekommen. Aber als er dort die Adresse der Notunterkunft erreichte, war sie von all den in ihren eigenen Wagen Geflüchteten schon mehr als voll. Nach langer Hin- und Hertelefoniererei hieß es: weiter in die Gegend südlich von Freiburg, nahe an die Grenze Frankreichs und der Schweiz!
    Nach einer abenteuerlichen Nachtfahrt erreichten sie endlich die Turnhalle, wo die Evakuierten erst mal notdürftig auf Matratzen unterkamen. Omi hat mir erzählt von dem erschrockenen Ruf, der ihnen entgegentönte: „Auch Sie, Herr Doktor Lindner? Auch Sie, Frau Lindner? Was sagen Sie zu dieser Unterkunft?“
    Omi hat auf solche Rufe immer nur geantwortet: „Hauptsache, wir leben!“
    Mein Opa? Der muss nahe am Herzinfarkt gewesen sein, weil er sich einbildete, nur auf seiner eigenen Matratze schlafen zu können.
    Omi nahm’s lockerer – sogar noch, als sie merkte, dass ihre Handtasche geklaut worden war. Als sie mir ihre und Opas Flucht schilderte, hörte sich ihre Meinung dazu so an: „Was hätte ich davon, alles zu behalten, was mir gehört, und auf einer Luxusmatratze zu schlafen, wenn ich tot wäre?“
    Die Evakuierten wurden vom Roten Kreuz versorgt. Aber als Opa mit geborgten Münzen bei seiner Bank anrief, meldete sich niemand. Und als er über eine Filiale in einer wenig verstrahlten Gegend an sein Geld kommen wollte, erfuhr er, dass alle Filialen zwei Wochen lang geschlossen bleiben würden. Die Bank müsse sich erst einmal eine Übersicht über die neue Lage verschaffen.
    Er muss wohl danach mit seiner Versicherung, auch mit seiner Bank prozessiert haben. Er verlor beide Male. Omi hat gemeint: zu Unrecht. Danach hatte er keine Chance, wieder von vorn anzufangen, wieder hochzukommen.
    Nein. Omi hat sich und Opa nach der Katastrophe nicht mit ihrem Schmuck über Wasser halten können. Sie hatte nach der Explosion in aller Eile ja nur das eingesteckt, was ihr das Wichtigste war. Ihren Schmuck rechnete sie jedenfalls nicht zu ihrem Wichtigsten. Deshalb ist er dort geblieben – außer der Bernsteinkette, die
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