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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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sie zufällig an diesem Tag trug. In einer der Schubladen von ihrem Toilettentisch. Dort muss er noch immer sein.
    Ja: Wenn er nicht inzwischen geklaut worden ist.
    Omi und Opa nahmen Kontakt mit ihren guten Freunden in München auf, in der Hoffnung, vorläufig bei ihnen unterzukommen. Aber die mussten bekümmert ablehnen: Sie hatten ihre Wohnung inzwischen übervoll mit verschiedenen anderen guten Freunden, die auch evakuiert worden waren.
    Omi gewöhnte sich schnell daran, dass die Sperrzone unbewohnbar geworden war. Wahrscheinlich für die Zeit ihres Lebens.
    Opa wehrte sich gegen diesen Gedanken. Er saß nur da – auf der Matratze am Boden! – und jammerte.

24
    Unsere Wohnverhältnisse? Ich nehme an, ihr wollt wissen, wie die Menschen hier seit 41 Jahren wohnen. Oder, etwas genauer formuliert: wie sehr sich hier die Wohnverhältnisse durch die Folgen der Katastrophe geändert haben.
    So einfach kann man das nicht beantworten. Dazu muss man die Bevölkerung erst einmal in zwei Gruppen unterteilen. Denn es kommt darauf an, ob wir von den Geflüchteten und Evakuierten aus dem Katastrophenbereich oder denjenigen sprechen, die schon immer hier gelebt haben.
    Vielen der Einheimischen hat die Wirtschaftskrise, die der Katastrophe folgte, genauso zugesetzt wie den Neubürgern. Aber sie hatten wenigstens noch ihre Wohnungen oder Häuser. Die waren zum großen Teil nach modernen Plänen gebaut, waren wärmegedämmt, hatten Isolierfenster, Solartechnik auf den Dächern. Aber auch die Bewohner bescheidener Behausungen aus vergangenen Jahrhunderten hatten mit den Reichen ein Gefühl gemeinsam: Hier bin ich zu Hause.
    Dagegen landeten die meisten Fremden in Massenquartieren wie zum Beispiel in Tanzsälen oder Turnhallen. Dort bekam jeder nur eine Matratze und eine Decke zugewiesen. Sie mussten den gedämpften Lärm und die Anwesenheit der anderen Evakuierten ertragen. Und vor den Gemeinschaftstoiletten standen Warteschlangen.
    Was nach den Turnhallen kam? Ich weiß von Zimmern mit oft hellhörigen Wänden in ehemaligen Hotels oder Landschulheimen. Dort gab es fast die ganze Nacht keine richtige Ruhe.
    Und dann?
    Als ich 24 Jahre später geboren wurde, wohnten wir in einer dieser Behelfswohnungen, wie sie danach in aller Eile gebaut worden sind: ein kleines Wohnzimmer, ein noch kleineres Schlafzimmer, in das nur zwei Betten passten, ein Badezimmer mit Dusche, Waschbecken und WC, ein schmaler Flur. Omi und Opa schliefen im Wohnzimmer, Mama, Papa und ich, das Baby, im Schlafzimmer. Die Wand im Badezimmer hinter dem Duschvorhang war immer verschimmelt. Omi meinte, das läge daran, dass zu viele Personen das kleine Badezimmer benutzten.
    Eine Garage? Haha! Wozu eine Garage, wenn man kein Auto besitzt? Nicht einmal einen Balkon hatten wir. Aber der Vorteil dieser Behelfswohnung war: Dort brauchten wir nicht viel Miete zu zahlen. Und mein Vater war ja noch Student. Sein Vater war schon alt und hatte ein Bein ab. Das hatte er als Soldat in Afghanistan verloren. Wenn ich nicht irre, lebte er in einem Seniorenheim irgendwo in der Nähe von Oldenburg. Der konnte seinem Sohn nichts geben. Und der ihm auch nicht. Die Seniorenheime bei uns sind zunehmend überfüllt. Vier Betten, manchmal sogar sechs Betten in einem Zimmer. Ich hab Papas Vater mal geschrieben. Er ist ja mein anderer Großvater. Aber der Brief kam zurück. Wahrscheinlich ist er schon tot.
    Ein Teil derjenigen Leute, die im innersten Sperrkreis rund um das Atomkraftwerk gewohnt hatten und Hals über Kopf fortgebracht worden waren, hinaus aus der lebensgefährlichen Zone, hat sich inzwischen wieder aufgerappelt und, verstreut in den unverstrahlten Gebieten Deutschlands, irgendwo niedergelassen.
    Sie haben Werkstätten installiert und Betriebe aufgebaut oder dabei geholfen. Sie haben Karriere gemacht und verdienen zwar meistens nicht mehr so viel wie früher, leben aber wieder ziemlich sorgenfrei.
    Wir blieben in der Behelfswohnung. Was für ein Unterschied zu dem früheren Anwesen meiner Großeltern!
    „Man darf nicht vergleichen“, hat Omi immer gesagt. „Man muss so tun, als hätte es das Davor nie gegeben. Sonst müsste man verzweifeln. Wo man doch nur einmal die Chance bekommt zu leben …“

25
    Wir? Mama und ich?
    Nein, nicht direkt dort. Etwas weiter rechts, hinter der Streuobstwiese. Als ich fünf Jahre alt war, zwei Jahre nach Opas Tod, hat Omi gemeint: „Das Kind braucht mehr Auslauf, mehr frische Luft.“
    Und obwohl sie schon ziemlich alt war, gab sie keine
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