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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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bekam sie bereits mit, dass sich ihre Eltern vor die Glotze setzten, wenn eine Sendung über das Thema Atomkraft kam.
    Als Omi acht Jahre alt war, passierte die Katastrophe in Tschernobyl, in der Ukraine. Sie verstrahlte auch Mittel- und Nordeuropa. Von heute auf morgen war für uns das Selbstverständlichste nicht mehr selbstverständlich: das Sich-ins-Gras-Setzen! Kinder durften nicht mehr in Sandkästen spielen. Frisches Gemüse durfte nicht mehr gegessen werden! Und so weiter.
    Nach ein paar Jahren großen Widerstandes schlief die Anti-Atom-Bewegung wieder ein. Man hielt sie für überholt. So etwas wie Tschernobyl konnte doch nicht noch einmal passieren!
    Und dann kam – na was? Fukushima. Im März 2011. Das war ein Schock! Nur fünfundzwanzig Jahre nach Tschernobyl! Omi war damals 33 Jahre alt. Diesmal hatten Naturgewalten diese Katastrophe ausgelöst: erst ein Erdbeben, dann ein Tsunami, der ganze Küstenstädte vernichtete und über 10000 Menschenleben kostete. Vorläufig. Diesmal wurde in unserem Land die sofortige Abschaltung aller Atomkraftwerke verlangt.
    Die deutsche Regierung ließ unsere sieben ältesten Atomkraftwerke sofort stoppen. Im Jahr 2022 sollten die letzten Reaktoren Deutschlands für immer ausgeschaltet werden.
    Nur noch reichliche 11 Jahre, dann wären wir hier die Gefahr los gewesen.
    Dann, zwei knappe Jahre vor dem Ende der Atomindustrie in unserem Land, ist es doch passiert. Im Jahr 2020. Vor jetzt 41 Jahren.
    Zur Zeit der Reaktorkatastrophe in Fukushima war Omi zehn Jahre mit Opa verheiratet, und noch immer hatten sie keine Kinder.
    Nein, sie gehörten nicht zu denen, die keine haben wollten. Im Gegenteil: In ihrem Haus hatten sie extra zwei Kinderzimmer eingeplant und liebevoll möbliert. Aber die standen noch immer leer.
    Omi wurde achtunddreißig, wurde vierzig, ohne dass sich ihr Wunsch erfüllte.
    Schließlich gaben sie und Opa alle Hoffnung auf. Es sollte eben nicht sein.

28
    Als Omi 42 Jahre alt wurde, fand die Reaktorkatastrophe bei uns statt. Wieder menschliches Versagen, wie in Tschernobyl. Wieder eine Kernschmelze.
    Ja, ein Schock! Omi sagte, darauf sei niemand gefasst gewesen.
    Von der Flucht habe ich euch ja schon erzählt.
    Omi muss sich damals in der Turnhalle ziemlich mies gefühlt haben. Körperlich, nicht seelisch! Ihr sei jeden Morgen so übel gewesen, dass sie sich übergeben musste. Es dauerte eine Weile, bis sie auf die Idee kam, sie könnte schwanger sein. Und tatsächlich: Sie erwartete Zwillinge!
    Obwohl ihr dringend geraten wurde, sie abzutreiben, entschied sie sich trotz allem sofort dafür, sie auszutragen. Und Opa, der durch diese Nachricht wieder zu sich kam, war auch dafür.
    Den Entschluss der beiden werde ich mein Leben lang bewundern. Ich weiß nicht, ob ich in dieser Lage den Mut gehabt hätte, ein solches Risiko einzugehen! Als ich Omi das mal sagte, meinte sie trocken: „Wir haben nur Prioritäten gesetzt …“
    Was „Priorität“ heißt? Vorrang. Anders ausgedrückt: Omi und Opa haben überlegt, was ihnen wichtiger ist: in diesem Chaos lieber auf Kinder zu verzichten – oder sie trotzdem zu wollen.
    Dass die beiden Mädchen ihre Geburt überlebten, hab ich euch schon erzählt. Opa und Omi waren überglücklich, trotz allem. In die Zukunft konnten sie ja nicht blicken.
    Anfangs ließ sich alles auch ganz gut an. Sie waren ja in einer „sicheren Zone“. Noch rechtzeitig vor der Entbindung konnten sie eine frische Neubau-Behelfswohnung ergattern.
    Wie sie sich darin fühlten?
    „In dieser Wohnung waren wir wenigstens allein“, erzählte mir Omi. „Niemand konnte uns über die Schulter gucken, so wie in der Turnhalle, oder uns belauschen, wie in dem Hotelzimmer …“
    Opa litt daran, dass er nicht wieder als Zahnarzt arbeiten konnte. Ihm fehlte das Geld für all die Apparate, die ein Zahnarzt heute braucht. Omi stärkte aber bei jeder passenden Gelegenheit seinen Glauben, dass er der Wichtigste sei. Denn er betreue ja die Kinder, wenn sie nicht daheim sei.
    Ja, sie war es, die die ganze Familie unterhielt. Sie wurde nach einem Schnellkurs als Lehrerin an unserer Grundschule eingestellt, weil es im Freiburger Raum zu wenige Lehrer gab.

29
    Dann ging es los mit Rosannas Krankheiten, bis sie starb. Mama fand aus der Trauer um ihre Schwester nicht heraus. Opa begann zu kränkeln. Wenn Omi aus der Schule heimkam, konnte sie sich nicht ausruhen, sondern musste kochen und waschen, pflegen und trösten.
    Dann hatte Mama den Freund, der mein Papa
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