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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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wurde. Das war die Zeit, in der es in unserer Wohnung eine Weile heiter zuging.
    Mama hat mit 22 Jahren geheiratet. Bald war sie schwanger. Schon in dieser Zeit entstanden die ersten Spannungen zwischen ihr und Papa. Er wollte raus aus diesem verstrahlten Land. Sie aber wollte nicht mit, verlangte nur nach Ruhe.
    Na klar: Meine Eltern und Großeltern müssen sich sehr auf das Kind gefreut haben. Aber es wurde ja tot geboren. Mamas Heiterkeit kam nicht zurück, auch nicht, als ich zur Welt kam und leben blieb.
    Nein, Mama wollte jetzt noch weniger fort als vorher. Es gab ein ewiges Hin- und Hergezerre. Das hielt mein Papa auf die Dauer nicht aus. Und so ging er allein nach Südamerika, bot aber an, Mama und mich nachzuholen, sobald sich die Wogen auf beiden Seiten etwas geglättet haben würden.
    Opa lebte nicht mehr lange. Wie ich schon sagte: An ihn hab ich nur noch eine ganz blasse Erinnerung. Omi war jetzt Witwe.
    Hier endet ihr Text. Zehn volle Seiten ohne eine Spur von Selbstmitleid.
    Ich bin sicher, dass Opas Tod Omi sehr traf und dass sie sich noch ein paar Jahre mit ihm zusammen gewünscht hätte. Aber nach einiger Zeit echter Trauer hatte sie seinen Tod – wie soll ich das ausdrücken? – verarbeitet?, bewältigt? Ich glaube, man versteht am besten, was ich meine, wenn ich es so ausdrücke: Sie hatte Abstand von seinem Tod genommen.
    Sie hat immer mehr nach vorn als zurück geschaut. Deshalb hatte sie auch die Trauer um Rosanna abgeschlossen. Während Mama den Verlust ihrer Zwillingsschwester noch immer nicht verkraftet hat.
    Wie Omi das alles ertragen hat? Als wir mal über Glück sprachen, hat sie mir erzählt, dass sie danach , als sie fast nichts mehr besaß, glücklich war über eine ganz billige, groß geblümte Polyesterbluse, die ihr eine Einheimische geschenkt hatte. Davor , sagte sie, hätte sie sich geweigert, so ein billiges, potthässliches Teil jemals anzuziehen!
    Opa scheint sich viel mühsamer an das neue Leben gewöhnt zu haben. Ich glaube, er war einer, der sich vom lieben Gott oder wem auch immer ungerecht behandelt gefühlt hat. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Freiburg als seine Heimat anzusehen, obwohl er hier 28 Jahre seines Lebens verbracht hat. Seine Heimat war dort, wo er Zahnarzt gewesen war.
    Das meinen viele. Aber dafür gibt es keine Sicherheit. Man hofft es, aber man weiß es nicht. Die Verstrahlung lässt erst nach und nach ihre Unheimlichkeit erkennen.
    Als Omi noch lebte, habe ich sie mal gefragt, ob sie meine, ich werde schon bald sterben, aus ähnlichen Gründen wie Rosanna oder Tina. Oder ob ich so alt werde wie sie.
    Omi hat nicht energisch abgewinkt: „ Du doch nicht! Du kannst ganz beruhigt sein: Dir passiert nichts. Du wirst steinalt werden!“
    Denn damit hätte sie mich angelogen.
    Sie hat mir so geantwortet: „Du kannst nur hoffen. Seitdem auch in unserem Land der Super-GAU stattgefunden hat, besteht für alle unsere jungen Leute die Gefahr, früh zu sterben. Sei dankbar, Vida, für jedes Jahr, das du danach gesund bleibst!“
    Omi war immer ehrlich zu mir. Und ich zu ihr. Und was ich sie auch gefragt habe: Sie hat mich ernst genommen.

30
    Omi war schon über achtzig, als ich eines Tages von der Schule heimkam, und sie war nicht da. Das war ganz ungewöhnlich. Ich hab sie überall gesucht, aber nicht gefunden. Schließlich bin ich zur Polizei gegangen und hab eine Suchmeldung aufgegeben.
    Ein paar Tage lang hörten wir gar nichts. Während dieser Zeit war ich zu nichts zu gebrauchen. Ich hätte Omi so viel fragen müssen! Zum Beispiel, wo sie das Salzfässchen hingestellt hatte. Und warum ihre Bernstein-Halskette nach ihrem Verschwinden auf meinem Nachttisch lag. Und warum sie mir nicht gesagt hatte, wo sie hingeht.
    Und noch viel mehr. Immer neue Fragen an Omi kamen mir damals in den Sinn!
    In der Schule hab ich nur dagesessen und gegrübelt, um vielleicht auf Hinweise zu stoßen, wo sie sein könnte.
    Dann haben sie sie endlich gefunden.
    In der Sperrzone. In der Villa, die mal ihr und Opas Zuhause gewesen war. Die Polizistin, die den Auftrag bekommen hatte, Mama und mir die Nachricht zu bringen, hat uns erzählt, dass Omi offensichtlich das Haus so vorfand, wie sie es vor 38 Jahren verlassen hatte. Nur unsäglich verstaubt und von Spinnweben behangen. Trotzdem muss sie Wohnzimmer, Küche, Bad und Flur noch geputzt haben, bevor sie … bevor sie … bevor sie sich das Nachthemd anzog, das noch unter dem Kopfkissen lag. Dann ist sie unter die Bettdecke
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