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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau
Autoren: Philippa Gregory
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1
    In meinem Traum roch ich den dunklen Schwefelodem einer vorbeiziehenden Hexe, zog mir die rauhe Decke über den Kopf und flüsterte: »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns«, zum Schutz vor meinem Albtraum. Dann hörte ich Schreie und das beängstigende Knistern hungriger Flammen und erwachte in Panik. Ich setzte mich auf meinem Strohsack auf und sah mich verängstigt in der weißgekalkten Zelle um.
    Die Wände flackerten orange und scharlachrot im unsteten Licht tanzender Flammen, die sich auf ihnen spiegelten, und ich hörte die Schreie kämpfender Männer. Ich wußte sofort, daß das Schlimmste passiert war. Lord Hugo war gekommen, uns zu vernichten. Lord Hugo war hier, um sich die Abtei zu unterwerfen, wie wir befürchtet hatten, seit die Schergen König Heinrichs unseren Reichtum gesehen und uns der Korruption bezichtigt hatten. Ich warf mein Gewand über, griff mir meinen Rosenkranz und meinen Umhang, zwängte meine Füße in die Stiefel, riß die Tür zur Zelle auf und lugte hinaus in den verrauchten Korridor des Novizinnenschlaftrakts.
    Die Abtei war aus Stein, aber die Dachsparren würden brennen, die Balken und die Holzböden. Vielleicht fraßen sich die Flammen schon unter meinen Füßen nach oben. Ich hörte ein leises, ängstliches Wimmern: Es war meine eigene feige Stimme. Zu meiner Linken klafften offene Fenster, und rote Rauchschwaden wirbelten herein wie hungrige Schlangen, die nach meinem Gesicht züngelten. Ich spähte mit tränenden Augen hinaus und sah, schwarz im Gegenlicht des Feuers, Männergestalten, die mit Schätzen beladen über den Rasen des Kreuzgangs liefen; es waren unsere Schätze, heilige Schätze aus der Kirche. Vor ihnen loderte ein Feuer, und ich mußte fassungslos mitansehen, wie diese Soldaten des Satans die juwelen besetzten Bucheinbände abrissen und die flatternden Seiten in die Flammen warfen. Dahinter saß ein Mann auf einem großen Rotschimmel, er hatte den Kopf zurückgeworfen und lachte wie der Leibhaftige: Lord Hugo.
    Schluchzend vor Angst wandte ich mich ab. Der Rauch ließ mich nervös husten. Hinter mir waren die Zellen, in denen die jungen Novizinnen, meine Schwestern in Christi, immer noch schliefen. Ich machte zwei Schritte den Korridor hinunter, um gegen ihre Türen zu hämmern und ihnen zuzuschreien, doch aufzuwachen, sich vor dem Teufel in unseren Mauern und dem Feuertod zu retten. Ich streckte meine Hand nach der ersten Tür aus, aber der Rauch füllte meine Kehle, und ich brachte keinen Ton heraus. Mein Schrei blieb mir im Hals stecken, ich schluckte und versuchte noch einmal zu schreien. Aber ich war in diesem Traum gefangen, stimmlos und machtlos, meine Füße wateten durch Schwefel, meine Augen waren von Rauch geblendet, meine Ohren verstopft von den Schreien der Ketzer, die sich mit roher Gewalt ihren Weg in die Verdammnis erkämpften. Ich klopfte mit schwereloser Hand gegen eine Tür, so daß kein Laut zu vernehmen war. Kein einziger Ton.
    Ein leises Stöhnen der Verzweiflung, dann raffte ich meine Röcke und floh, weg von meinen Schwestern, meiner Pflicht und dem Leben, das ich erwählt hatte. Ich eilte die halsbrecherische Wendeltreppe hinunter wie eine Ratte aus einem brennenden Heuschober.
    Die Tür am Fuß der Treppe war versperrt, daneben lag die Zelle, in der meine Mutter in Christi, die Äbtissin Hildebrande, schlief. Ich blieb stehen. Denn für sie, vor allen anderen, hätte ich mein Leben riskieren sollen. Alle meine jüngeren Schwestern hätte ich warnend rufen sollen, aber um Mutter Hildebrande zu retten, hätte ich mich bei lebendigem Leib verbrennen lassen sollen und dennoch nicht mehr getan, als ihr gebührte. Ich hätte die Tür aus den Angeln schlagen sollen. Ich hätte niemals, niemals ohne sie gehen dürfen. Sie war meine Beschützerin, sie war meine Mutter, sie war meine Retterin. Ohne sie war ich nichts. Ich hielt kurz inne — kaum eine halbe Sekunde —, dann roch ich den Rauch, der sich unter der Refektoriumstür hindurchschlängelte, und stürzte mich auf die Riegel der Hintertür, zerrte sie auf und war draußen, im Westgarten, inmitten der Kräuterbeete im kühlen und bleichen Mondlicht. Ich hörte das Geschrei aus dem Inneren der Abtei, aber hier draußen im Garten war niemand. Ich rannte die streng ausgerichteten Gartenwege entlang und flüchtete mich in den schmalen Schatten des Tors in der Außenmauer, wo ich kurz verweilte. Trotz des heftigen Hämmerns meines Herzens hörte ich das Splittern der farbigen Fenster
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