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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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wenn die Zeit rückwärtsginge! Wenn ich Mama auf Papa zulaufen sähe, so, wie sie das getan haben muss, als sie noch nicht verheiratet mit ihm war! Omi hat mir erzählt: Wenn Mama ihn bei seinem Namen gerufen hat, soll es wie ein Jubelschrei geklungen haben!
    Ach, wäre sie doch noch immer so!
    Geschwister? Meine Mama? Erst ja, dann nein. Eine Zwillingsschwester. Rosanna. Aber die ist schon lange tot.
    Mama heißt Corinna. Es gibt ein paar Kinderfotos von ihnen. Ich hab sie oft angeschaut: Welche war Mama, welche ihre Schwester? Noch nicht einmal auf dem Foto, das die beiden am ersten Schultag mit Schultüten vor dem Schulgebäude zeigt, kann ich sie auseinanderhalten.
    Heute weiß ich: Sie waren eineiige Zwillinge.
    Immunschwäche. Die Zwillinge sind ja nur ein paar Monate danach geboren und noch vor ihrer Geburt von der Verstrahlung erwischt worden.
    Rosanna war dauernd krank. Deshalb ging sie ab dem zweiten Schuljahr nicht mehr zur Schule, weil sie sich dort immer gleich am ersten oder zweiten Tag irgendeine Krankheit geholt hat. Omi hat ihr daheim Unterricht gegeben.
    Die Schwestern hatten die gleichen Lieblingsfarben, Lieblingstiere, Gewohnheiten und Begabungen. Die gleichen Hobbys, die gleichen Fehler. Beide hassten Kohlgemüse, beide aßen am liebsten Pfannkuchen mit Apfelmus. Alles machten sie gemeinsam.
    Omi hat mir das erzählt. Von Mama habe ich darüber fast nichts erfahren.
    Dann wurde Rosanna so krank, dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Bis sie an den Folgen einer harmlosen Mandelentzündung starb. Mit dreizehn Jahren.
    Omi hat mir erzählt, dass Mama ihrer Schwester noch jahrelang nachgetrauert hat. Dass sie sich geweigert hat, sich eine Freundin zu suchen, weil sie der Meinung war, dass sich keine mit Rosanna vergleichen ließe. Sie war auch überzeugt, dass ihre Schwester nur ihr allein gehöre, egal, ob lebend oder tot.
    Als ich noch mit Mama im selben Zimmer schlief, hab ich sie nachts oft nach Rosanna rufen hören. Manchmal hat sie sich sogar mit ihr unterhalten!
    Habe ich nicht verstanden. Sie hat ganz leise gesprochen.
    Omi hat mir mal erzählt, es sei gewesen, als ob sich Mama ohne Rosanna nur noch halb fühlte. Wie in der Mitte entzweigerissen.
    Seltsam: Ich habe eine Tante, die immer dreizehn Jahre alt bleibt!

16
    Opa? Er ist bettelarm gestorben. An Krebs.
    Dabei waren meine Großeltern doch mal richtig reich! Opa hatte das Haus samt Zahnarztpraxis von seinem Großvater übernommen. Der hatte es schon ein paar Jahre vor dem Bau des Atomkraftwerks dorthin bauen lassen. Er konnte ja nicht ahnen, dass es später nur zwölf Kilometer vom Ort der Reaktorkatastrophe entfernt sein würde!
    Omi und Opa flüchteten gleich nach der Explosion. Noch als die finstere Wolke über dem Reaktor stand.
    In ihrem eigenen Wagen. Ganz offiziell evakuiert wurde erst danach. Viele Bewohner dieses Viertels waren schon verstrahlt, bevor sie es verließen. Vor allem solche, die sich – aus was für Gründen auch immer – gerade im Freien aufhielten.
    Wie schon nach der Katastrophe von Fukushima gaben damals zahlreiche Politiker und Manager der Atomindustrie falsche Auskünfte. Sie verharmlosten den Atomschlag. Die meisten von ihnen flüchteten auch. Denn die Luftströmungen bewegten sich zu der Zeit in Richtung Berlin.
    Was für ein Schock! Niemand war auf so etwas gefasst gewesen: so plötzlich – und so stark! Alle hatten gehofft: wenn schon, dann wenigstens woanders. Wenn überhaupt, hätte man noch eher einen terroristischen Angriff erwartet: Flieger kracht in AKW. Denn das war ja gegen Flugzeugabstürze nicht abgesichert. Gewiss eine Katastrophe! Aber dann wäre man wenigstens nicht mitschuldig daran gewesen!
    Ich habe Omi in ihren letzten Jahren oft seufzen hören: „Wieder waren wir zu leichtsinnig geworden, wieder hatten wir vergessen, für alles Notwendige zu sorgen.“
    Doch, Katastrophenschutzpläne gab es. Aber wenn ich nicht irre, dann nur in den Landkreisen, in denen ein Atomkraftwerk stand. Weil bis dahin nichts Ernstes in unserem Land passiert war, hatten die zuständigen Behörden diese Pläne leider nicht jedes Jahr oder wenigstens jedes zweite Jahr – wie sagt man? – aktualisiert.
    Und wer von denen, für die sie gedacht waren, hat sie schon durchgelesen?
    Ihr habt sicher Recht: Wahrscheinlich haben es die meisten nicht für nötig gehalten.
    Ja. Wieder menschliches Versagen. Wie in Harrisburg. Wie in Tschernobyl. Und Omi hat gesagt, auch bei der Katastrophe von Fukushima trugen Erdbeben
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