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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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und Tsunami nicht die alleinige Schuld an den schrecklichen Folgen. Die Japaner wussten doch, dass ihr Land so oft bebt. Warum haben sie zugelassen, dass über 50 Atomkraftwerke auf diesen wackligen Inseln errichtet wurden?
    So ist es: Die Menschen müssen anfangs fast alles geglaubt haben, was die Betreiber der Atomindustrie ihnen erzählten. Da wurde verharmlost, wurden die Gefahren kleingeredet: Dass so eine Katastrophe nur alle hunderttausend Jahre mal geschähe, wenn überhaupt. Dass keine Energie so billig zu bekommen sei wie die Atomenergie. Und dass bei uns die Lichter ausgingen, wenn es keinen Atomstrom mehr gäbe. Und so weiter.
    Aber von Jahr zu Jahr war in Deutschland der öffentliche Widerstand gegen die Atomindustrie stärker geworden. Jetzt reichte es. Nicht nur uns Deutschen. Auch Bürger anderer europäischer Staaten, in denen Atomkraftwerke standen, wurden unruhig, als sie sehen mussten, was ganz in ihrer Nähe geschehen war.
    Der allgemeine Widerstand gegen die Atomindustrie wuchs in ganz Europa. Zeitweise gab es in jeder europäischen Großstadt Demonstrationen von Hunderttausenden!
    Seitdem sind über dreißig Jahre vergangen. Das Thema Atomindustrie hat sich inzwischen fast erledigt. Sogar in Frankreich – aber erst nach zähen Verhandlungen.
    Ich werde euch jetzt von einer Begebenheit berichten, die sich, wie mir Omi erzählte, irgendwann zwischen den Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima in einer westdeutschen Stadt ereignet und für ziemlichen Wirbel gesorgt hat: Die Schüler der siebten Klasse einer Realschule hatten sich – zusammen mit ihrem Lehrer – auf dem zuständigen Landratsamt einen Katastrophenschutzplan geholt und im Unterricht durchgearbeitet. Zu ihrem Erstaunen erfuhren sie bei dieser Lektüre, dass in ihrem Schulgebäude die Jodtabletten für die ganze Stadtbevölkerung gelagert sein sollten. Als sie ihren Schulleiter nach dem Lagerraum fragten, stellte sich heraus, dass er von den Tabletten gar nichts wusste. Und es stellte sich noch mehr heraus: dass gar keine Jodtabletten da waren! Und dass niemand wusste, wo in der Stadt – wenn überhaupt! – sie waren!
    Jodtabletten? Die müssen Menschen unmittelbar nach einer Reaktorkatastrophe schlucken, um Schilddrüsenkrebserkrankungen vorzubeugen. Wenn in diesem Chaos, in dieser nötigen Eile die Jodtabletten nicht gefunden werden – na, was dann passiert, kann man sich denken. Die Kinder sind nicht schuld daran. Aber viele der Opfer sind Kinder. Auch dann, wenn nicht sie, sondern ihre Eltern sterben. Wer sorgt dann für sie?
    Links neben mir in meiner Klasse sitzt Marko. Seine Mutter ist vor Kurzem an Krebs gestorben. Jetzt sorgt seine Tante für ihn. Immer, wenn er die Nase hochzieht, weiß ich, dass er gerade weint.

17
    Hier geht es in die Mensa. Die wird betrieben von einer Schülermutter, die Köchin ist, und ein paar ehrenamtlichen Helfern. Wer von den Schülern und Lehrern will, kann hier essen. Die Kosten sind ganz gering. Was es gibt, besteht mindestens zur Hälfte aus Spenden.
    Nein, ich esse zu Hause. Mit Mama. Ich muss ja auch für Mamas Essen sorgen.
    Dort drüben werden Getränke ausgeschenkt. Auch Cola.
    Ich? Nein. Ich hab keinen Durst.
    Was – ihr wollt mir eine spendieren? Das ist wirklich nett von euch, dann würde ich schon eine nehmen …
    Was wir daheim so essen? Wenn ihr glaubt, dass ich jetzt anfange, von allerlei Lieblingsgerichten zu schwärmen, muss ich euch enttäuschen.
    Früher hat sich Omi drum gekümmert, dass was auf unseren Tisch kam. Und nie wurde ohne Servietten gegessen. Nicht einmal dann, wenn es nur Pellkartoffeln und Quark gab. Servietten gehörten für sie auf einen gedeckten Tisch – ebenso wie eine sorgfältig zubereitete Nachspeise. Auf die habe ich mich als Kind immer gefreut, weil die Hauptspeise oft nicht richtig satt gemacht hat.
    Omi gab sich rührende Mühe. Oft wanderte sie schon im Morgennebel los, um auf dem Markt etwas Billiges zu ergattern. Das hat sie dann in der Küche in eine Leckerei verwandelt. Sicher wird sie sich dabei oft an Rezepte in ihren Kochbüchern erinnert haben, die wahrscheinlich noch immer in ihrer Villa im Sperrbezirk im Küchenschrank stehen, nur eben ganz verstaubt und mit Spinnweben überzogen …
    Ja, damals, als ich Kind war und sich Omi um alles kümmerte, aß ich noch gern.
    Seit sie nicht mehr da ist? Da sorge ich dafür, dass wir nicht verhungern. Aber warum soll ich mir Mühe mit dem Kochen machen, wenn Mama nur auf mein Drängen hin
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