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Nobels Testament

Nobels Testament

Titel: Nobels Testament
Autoren: Liza Marklund
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nichts Schlimmes, es ist nichts Schlimmes. Sie zwang sich, langsam zu atmen und die Situation realistisch zu betrachten.
    Sie konnte nichts tun.
    Annika schaute sich um. Ein Gemälde starrte herausfordernd auf sie herab, ein Gesicht umrahmt von Schlangenhaar. Eine fette Frau in schwarzem Spitzenkleid verdrehte die Augen und fiel neben ihr in Ohnmacht. Ein junger Mann brüllte so laut, dass die Sehnen an seinem Hals wie Gummibänder hervortraten. Ein betrunkener Mann ließ sein Bierglas mit einem Knall auf den Steinboden fallen.
    Ich frage mich, wo Bosse hin ist, dachte sie.
    Ihr Pulsschlag verlangsamte sich, die Kakophonie in ihrem Kopf zerfiel langsam in Worte und Sätze. Sie hörte Rufe und Ermahnungen, hauptsächlich von den dunkelgrauen Anzügen. Mit stahlharten Stimmen sprachen sie in Mikrofone, die vom Mund zum Ohr gingen, Leitungen, die in Innentaschen und Hosenbünden verschwanden.
    »Der Speiseaufzug ist zu klein, die Trage geht nicht, wir müssen sie durch den VIP-Eingang im Turm transportieren.«
    Sie vernahm nur die Worte, ohne zu erfassen, wer sie sagte.
    »Das Gebäude ist gesichert, verstanden. Ja, wir halten die Zeugen hier fest und räumen jetzt den Festsaal.«
    Ich brauche meine Tasche, dachte sie.
    »Ich brauche meine Tasche«, sagte sie laut, aber niemand hörte sie. »Darf ich meine Tasche holen? Ich brauche mein Handy.«
    Sie wandte sich um, die Menschenmenge bewegte sich jetzt langsamer, wie Ameisen kurz vor dem Frost. Eine in Weiß gekleidete Frau schob vom Drei-Kronen-Saal eine Krankentrage herbei, dahinter ein Mann mit einer weiteren Trage, dann einige Männer mit Stethoskop und Sauerstoff und Tropf. Weiter hinten im Goldenen Saal standen die Gäste der Nobelpreis-Gala wie eine Wand aus weißen Gesichtern und schwarzen Mündern. Die Schreie waren verstummt, die Stille dröhnte. Annika vernahm fragmentarisch den leisen Dialog zwischen den Weißkitteln, dann wurden die Körper auf die Pritschen geladen, und erst da bemerkte Annika den Mann, den Mann, der zu Boden gestürzt war, er war bei Bewusstsein und ächzte. Die Frau war vollkommen reglos.
    Sekunden später waren sie fort.
    Das Gemurmel schwoll zu ohrenbetäubendem Lärm an, und Annika nutzte die Gelegenheit. Sie schlüpfte schnell an zwei Anzügen vorbei und bekam ihre Tasche zu fassen. Einer von ihnen packte sie, als sie ihr Handy zückte.
    »Sie gehen nirgendwohin«, sagte er mit unnötiger Härte, und sie schüttelte ihn ab. Sie wählte Janssons Durchwahl am Newsdesk und bekam drei kurze Signale zur Antwort. Netz überlastet.
    Wie zum Teufel …?
    Anrufliste,
wählen,
Jansson anrufen,
wählen.
    Piep, piep, piep. Netz überlastet.
    Anrufliste,
wählen,
Jansson anrufen,
wählen.
    Netz überlastet.
    Annika sah sich um, Hilfe suchend. Niemand außer der Figur auf dem unproportionierten Bild an der Wand erkannte ihre Situation.
    »Ihr Name?«
    Ein Mann in Jeans, mit Notizblock und Stift in der Hand, stand vor ihr.
    »Wie bitte?«, fragte Annika.
    »Kriminalpolizei. Könnten Sie mir bitte Ihren Namen nennen. Wir müssen hier ein bisschen Ordnung reinbringen. Haben Sie etwas gesehen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Annika und sah das Blut auf dem Marmorboden, das bereits dunkler wurde und trocknete.
    Keine Engel, konnte sie noch denken, zum Glück sind die Engel still.
    Sie schauderte und bemerkte, dass sie ihre Stola verloren hatte, die alte Stola ihrer Großmutter, die sie als Hausdame in Harpsund getragen hatte. Sie lag auf dem Boden neben der gerinnenden Blutpfütze.
    Chemische Reinigung, dachte Annika, hoffentlich überlebt sie das.
    »Ich heiße Annika Bengtzon«, sagte sie zu dem Polizisten. »Ich berichte für das
Abendblatt
von der Nobelpreis-Gala. Was ist passiert?«
    »Haben Sie den Schuss gehört?«
    Den Schuss?
    Annika schüttelte den Kopf.
    »Haben Sie im Augenblick des Schusses eine verdächtige Person beobachten können?«
    »Ich habe getanzt«, sagte sie. »Es war eng. Da hat jemand geschubst, aber kein Verdächtiger, nein …«
    »Geschubst? Wer hat Sie geschubst?«
    »Eine Frau, sie wollte vorbei, sie ist mir auf den Fuß getreten.«
    »Okay«, sagte der Polizist und notierte. »Warten Sie hier, es kommt jemand, um ihre Aussage aufzunehmen.«
    »Geht nicht«, sagte Annika. »Ich muss einen Artikel schreiben. Wie heißen Sie, darf ich Sie zitieren?«
    Der Jeansmann kam auf sie zu und drückte sie gegen die Wand, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb.
    »Sie bleiben genau hier«, sagte er, »bis ich
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