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Nixenjagd

Nixenjagd

Titel: Nixenjagd
Autoren: Susanne Mischke
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Willst du mitkommen?«
    »Gerne.« »Und der Hund?« »Das ist ein Jagdhund. Der ist es gewohnt, ruhig unter einem Hochsitz zu liegen.« Das war lediglich eine Vermutung, Franziska hatte es noch nicht ausprobiert. Sie gingen wortlos nebeneinanderher. Offenbar galt das Schweigegebot auch schon für den Weg zum Hochsitz. Angenehm kühl umfing sie der grüne Dämmer des Waldes. Ein schmaler Pfad führte vom Fahrweg ins Dickicht. Paul stellte sein Fahrrad an einer Buche ab und ging den Trampelpfad voran. Ein großer Vogel flog auf und verschwand im Zickzackflug zwischen den Bäumen. »Ein Habicht«, erklärte Paul leise. Franziska nickte nur. Sie würde sich heute auf keinen Fall zu unüberlegtem Geplapper hinreißen lassen. Der Hochsitz befand sich am Rand einer Lichtung. Es war eine Luxusausführung mit einer hüfthohen Brüstung und einem Dach aus Brettern. Franziska wusste von ihrem Onkel, dass solche Einrichtungen »Kanzel« hießen. Sie leinte Bruno am Fuß der Leiter an. »Platz und Ruhe!«, befahl sie und hoffte inständig, der Hund würde sich daran halten. Er winselte ein wenig als Franziska hinter Paul die Leiter erklomm, aber schließlich sank seine Schnauze seufzend ins dürre Gras. Dann saßen sie auf der schmalen Bank. Ab und zu berührten sich ihre Jeans. In unregelmäßigen Abständen setzte Paul das Fernglas an die Augen, deutete dann in eine Richtung und gab es ihr. Meistens sah Franziska gar nichts, aber das war ihr egal. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so wohl gefühlt zu haben wie neben Paul auf der harten Holzbank. Zum Schweigen verurteilt, vom lästigen Zwang geistreicher Unterhaltung befreit, konnte sie seine Gegenwart unbeschwert genießen. Die Geräusche des Waldes bildeten einen Klangteppich, auf dem sie selig dahinschwebte. Um das Idyll vollends komplett zu machen, tauchten ein paar Rehe am Waldrand auf. Der Wind stand günstig, sie konnten offenbar weder die Menschen noch den Hund wittern. Sie suchten auf der Lichtung nach zarten Gräsern, wobei sie immer wieder die Köpfe hoben und die Lauscher bewegten wie Radarschirme. Fast eine halbe Stunde lang dauerte die Mahlzeit, ehe die Tiere aus unerfindlichem Grund hochschreckten und im Dickicht verschwanden. Es war kühler geworden und die Schatten länger. Wie lange würde Paul noch da oben sitzen wollen? Würden ihre Eltern sich Sorgen machen, wenn sie nicht rechtzeitig zum Abendessen kommen würde? Ihr Vater hatte einen Grillabend angekündigt. Verdammt, warum hatte sie ihr Handy nicht dabei? Darauf bestand ihre Mutter immer wieder, aber meistens vergaß Franziska das lästige Ding. Wenn Paul zu Hause angerufen hat, werden sie sich denken, dass ich mit ihm zusammen bin, und sich keine Sorgen machen, beruhigte sie sich. Man kann eben nicht immer auf alle Rücksicht nehmen. Seine Schulter berührte die ihre. Franziska hielt den Atem an und bewegte sich nicht. Er neigte den Kopf, seine Haare kitzelten ihren Hals. Franziska fühlte, wie ein Beben durch ihren Körper ging. Gleich würde er sie küssen! Sie schielte auf sein Gesicht hinab. Eine Locke ringelte sich malerisch über die glatte Stirn, seine Lippen waren leicht geöffnet – er war eingeschlafen. Was jetzt? Sollte sie ihn wecken? Ob ihm das peinlich sein würde? Sie studierte sein Gesicht aus nächster Nähe: die langen dunklen Wimpern über den zarten Lidern, die makellose helle Haut, die weich geschwungenen Lippen, darüber ein kaum sichtbarer Haarflaum, das männlich kantige Kinn. Wie ein ge fallener Engel, dachte sie und genierte sich sofort für diesen kitschigen Gedanken. Fast automatisch fuhr ihre rechte Hand durch sein Haar, das sich überraschend weich anfühlte und nach Laub roch. Sein Kopf lastete schwer auf ihrer linken Schulter, allmählich verkrampften sich ihre Muskeln. Plötzlich schlug er die Augen auf, sein Blick flackerte sekundenlang orientierungslos, ehe er den ihren auffing. Die Locken glitten ihr aus den Fingern. Paul setzte sich auf. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich bin eingeschlafen.« »Macht nichts«, sagte Franziska. Ihre Stimme klang rostig, als hätte sie sie lange Zeit nicht benutzt. Er nahm ihre Hand, die eben noch sein Haar gestreichelt hatte, und betrachtete sie interessiert. Dann neigte er den Kopf und platzierte einen federleichten Kuss auf ihren Handrücken. »Wir müssen gehen«, sagte er und ließ ihre Hand los. Franziska spürte seine Lippen auf ihrer Haut, wie eine Brandwunde. Mit steifen Beinen kletterten sie die Leiter hinunter.
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