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Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sich heraus, daß sich nur das Moskauer Regiment und ein paar Splittertruppen auf dem Senatsplatz eingefunden hatten. Nebel hatte die Sonne verschluckt; es war plötzlich klirrend kalt in Petersburg. Das fahle Weißgrau des Himmels schien die Stadt zu erdrücken. Plötzlich begannen auch noch die Glocken zu läuten. Anhänger der Dekabristen hatten die Kirchen besetzt und die Popen gezwungen, sich ans Glockenseil zu hängen. Noch nie – außer bei der Krönung des Zaren, an seinem Geburtstag oder einen großen Feiertag – hatten alle Glocken von Petersburg geläutet. Daß sie jetzt alle auf einmal dröhnten, war wie die Ankündigung eines Weltuntergangs – oder die Begrüßung eines neuen Anfangs. Wer wußte das in dieser Stunde?
    Auf dem Senatsplatz formierte sich das Moskauer Regiment zu einem Karree und wartete auf die anderen meuternden Regimenter. Ein Teil der Verschwörer stand zusammen und beratschlagte. Sollte man schon losschlagen und den Winterpalast stürmen? Im Senatsgebäude war niemand, den man zu einer Anerkennung des Manifestes zwingen konnte, in der Admiralität verschanzte man sich. Und die Glocken dröhnten noch immer über Petersburg.
    Zwei Stunden vergingen. Reiter wurden ausgeschickt zu den Kasernen der anderen Regimenter. Man wartete auf Verstärkung, doch sie traf nicht ein. Aber es erschienen auch keine gegnerischen Truppen, mit denen man endlich kämpfen konnte, um die Lage zu klären.
    Ninotschka stand am Fenster hinter der dichten Gardine und blickte hinüber zum Admiralitätsgebäude. Praskowja, die Schneiderin, bekreuzigte sich, als aus der Ferne Pferdegetrappel ertönte und rasch näher kam. Eine Eskadron preschte heran. Vom Turm der Admiralität schlug eine Uhr. Zwei Uhr mittags war es.
    »Kannst du etwas erkennen?« fragte Ninotschka und drückte das Gesicht gegen die kalte Fensterscheibe. »Ist es Borjas Regiment?« Ihre Stimme schwankte plötzlich. »Praskowja, sie werden doch nicht so dumm sein und aufeinander schießen? Kannst du etwas erkennen?«
    »Nein, Hochwohlgeboren.« Die Schneiderin zog die Gardine wieder vor das Fenster. »Vielleicht ist dies alles auch nur eine Probe auf die große Vereidigung. Der gnädige Herr Graf wird alles berichten.« Sie machte sich wieder an Ninotschkas Kleid zu schaffen, aber ihre Hände zitterten so stark, daß sie keine Nadel mehr stecken konnte.
    Praskowja hatte Borja Tugai erkannt. An der Spitze seiner Eskadron war er zu den Verschwörern galoppiert.
    Und dann – kurz nach zwei Uhr – marschierten plötzlich neue Regimenter auf. Aber sie marschierten für den Zaren. Alle waren sie da und umzingelten den Senatsplatz. Das Finnische Regiment besetzte das Ufer der Newa. Das berühmte Ismailowsche Regiment schützte den Admiralitätsquai. Die Gardekavallerie – bis auf die Eskadron, die mit Leutnant Tugai zu den Verschwörern gestoßen war – schloß den Ring. Die Meuterer im Karree erstarrten. »Es wird Blut fließen«, sagte der Fürst Blensky zu Rylejeff. Rylejeff, einer der eifrigsten und glühendsten Aufrührer, war dauernd unterwegs gewesen, hatte Trubetzkoi gesucht, mit Offizieren in den Kasernen verhandelt, die Zaudernden zu überzeugen versucht. »Wir werden alle untergehen. Mein Gott, wir sind verraten worden!«
    Leutnant Tugai war von seinem Pferd gesprungen und lief zu Blensky hinüber. »Das ist alles, was ich überreden konnte!« schrie er. »Eine Eskadron.« Er holte seine schweren Reiterpistolen aus den Satteltaschen und steckte sie in den breiten Gürtel. »In den Kasernen kursiert ein Ausspruch des zukünftigen Zaren Nikolaus: ›Wer meutert, erhält achthundert Stockschläge und wird lebenslänglich nach Sibirien verbannt.‹ Das reizt nicht zum Heldentum.«
    »Und Sie?« fragte Blensky. »Warum sind Sie mit Ihren Reitern trotzdem gekommen?«
    »Ich stehe zu meinem Wort, Exzellenz. Ich bin kein Feigling.«
    »Und Ihre Braut? In siebzehn Tagen ist die Hochzeit, mein Geschenk für Sie ist schon gekauft.«
    Tugai blickte zu Boden. »Bitte, Exzellenz, sprechen Sie jetzt nicht von Ninotschka Pawlowna. Sie wird mich verstehen – oder ich habe die falsche Frau geliebt.« Er grüßte, drehte sich schroff um und ging zurück zu seinen abgesessenen Reitern.
    Nach drei Stunden, in denen sich die Truppen unschlüssig gegenüberstanden, weil niemand den Befehl zum Losschlagen geben wollte, kam endlich die Order von höchster Stelle: Zwei Abteilungen der Gardereiter stellten sich dem Karree der Verschwörer gegenüber auf, in einer
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