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Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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doppelköpfigen Adlers.
    ›Der Zar in seiner großen Güte hat beschlossen …‹
    Abduschej las nicht weiter. Er sank auf einen Sessel und legte den Brief zur Seite. Der Zar in seiner großen Güte – das war kein Befehl, es war eine Gnade.
    Drei Wochen später traf der Brief, zusammen mit einer wertvollen, alten Handikone, die Abduschej Ninotschka schickte, in Jenjuka ein. Dort hatte sich inzwischen einiges geändert. General Schejin hatte das Straflager geöffnet und die Dekabristen zu sogenannten Freilebenden erklärt. Sie konnten in die Häuser ihrer Frauen ziehen und unterstanden nicht mehr der Bewachung durch Soldaten. Das bedeutete, daß in Jenjuka jetzt beinahe Petersburger Zustände herrschten: Die Fürsten und Grafen gaben Essen und Jagden, das gesellschaftliche Leben blühte noch mehr auf.
    In diese neue Welt hinein kam der Brief des Zaren aus Petersburg. Noch bevor Ninotschka ihn öffnete, wußte sie, was er enthielt. Die kleine Ikone, die Abduschej mitgeschickt hatte, verriet es ihr.
    »Lies du den Brief«, sagte Ninotschka mit einer ganz kleinen Stimme und gab das Pergament an ihren Mann weiter. »Lies ihn ganz langsam, Borjuschka. Jedes Wort ist wie ein Tropfen neues Blut.«
    Es war ein langes Schreiben, in dem der Gardeleutnant Borja Tugai begnadigt und nach Petersburg zurückgerufen wurde. Allerdings nur als Privatmann – seine Offizierswürde war damals auf dem Platz vor der Peter-Pauls-Festung von ihm genommen worden.
    ›… Und so überlassen wir es Ihnen, ob Sie in Petersburg in Unserer Nähe leben wollen oder zurückkehren nach Riga, um auf dem Meere Rußlands Stärke und Ansehen zu mehren. Wir haben Ihren Vater unterrichtet, und er hat Uns seine tiefe Ergebenheit versichert. Nehmen Sie die nächste Postkutsche und kommen Sie zurück an Unseren Hof …‹
    Borja ließ den Brief fallen und umarmte Ninotschka. Sie weinte plötzlich wie ein Kind und klammerte sich schluchzend an ihm fest. »Sollen wir wirklich fahren, Ninotschka?« fragte Borja leise.
    Sie vergrub den Kopf in seinem Hemd und nickte. Borja schob sie ein Stückchen von sich und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Ich denke, du liebst Sibirien?«
    »Das habe ich gesagt, Borjuschka, um dich stark zu machen. Es war eine Lüge! Jeden Morgen, wenn ich aufstand, um aus dem Fenster zu sehen, habe ich geweint. O Borjuschka, laß uns die nächste Postkutsche nehmen … Lebte Globonow noch, was würde er sagen?«
    Borja senkte den Kopf. Jeden Tag ging er hinaus zu dem Grab unter der Birke und schmückte es mit Blumen. »Er würde sagen: Lauf mein Junge, sonst trete ich dich in den Hintern, damit du schneller wirst!« Borja schluckte. »Kommst du mit mir nach Riga, Ninotschka?«
    »Das fragst du noch … wo ich mit dir in Jenjuka bin?«
    Borja drückte sein Gesicht in Ninotschkas Haar. Dann glitt er an ihrer Gestalt hinunter und kniete vor ihr und begann zu weinen.
    Die Abreise war ein Ereignis. Zwei Tage lang verabschiedeten sich Borja und Ninotschka von ihren Freunden. Einen Berg von Nachrichten nahmen sie mit, von Grüßen, Briefen und Berichten. Und dann brachen sie am frühen Morgen des 1. September mit einer Begleitung von zwölf Kosaken in einer Kutsche zu der langen Fahrt nach Westen auf. Niemand stand am Straßenrand, um Borja und Ninotschka das schreckliche Schauspiel von Tränen, Winken, Schluchzen und letzten Zurufen zu ersparen. Aber hinter den Fenstern und Gardinen waren sie alle. Man sah ihre Schatten, wie sie auf die Straße blickten.
    Gott mit euch, Ninotschka und Borja! Gott mit euch …
    Am Grab von Globonow ließ Borja die Kutsche anhalten. Er und Ninotschka stiegen aus, legten einen Strauß Feldblumen unter das Kreuz und beteten. »Dein Name wird weiterleben«, sagte Borja ernst. »Das erste Schiff, das ich baue, wird ›Globonow‹ heißen.«
    Dann fuhren sie weiter; eine Gruppe kleiner Reiter auf struppigen Pferdchen – die Burjäten der Nachbarschaft – begleiteten sie ein Stück des Weges und verabschiedeten sich dann mit einem wilden Galopp und schrillem Schreien. Was blieb, war Stille. Diese unendliche Stille der Taiga, die Borja und Ninotschka begleiten würde über Monate hin.
    An diesem Tage ging die Sonne blutrot unter, und da sie nach Westen fuhren, zogen sie geradewegs in diese flammende Pracht hinein. Das ganze Land war rot – Himmel, Wälder und Erde. Borja legte den Arm um Ninotschka. »Noch können wir umkehren«, sagte er heiser.
    Sie schüttelte den Kopf und legte die Hände über die Augen.
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